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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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gerettet habe, er schrie etwas von Verrat, Feindseligkeit und krimineller antisowjetischer Gesinnung.
    Das alles war unsinnig und geradezu lächerlich dumm. Nach fünf Minuten schrien sie sich gegenseitig an und hieben mit der Faust auf den Tisch, obwohl sie sich am liebsten geschlagen hätten. Die ganze Sympathie, die sie füreinander empfanden, hatte sich in Luft aufgelöst, mehr noch, beide fühlten sich bestohlen, weil sie so viele gute Gefühle für jemand so Nichtswürdigen aufgebracht hatten. Schlagartig war auch ihre gemeinsame Sache dahin, die Freuden und Unannehmlichkeiten, die sie freundschaftlich geteilt hatten. Micha, von Natur aus friedfertig, hatte nach weiteren fünfzehn Minuten Geschrei und Fäusteschwingen seine Wut verausgabt und war bereit, zum Ausgangspunkt ihrer Meinungsverschiedenheit zurückzukehren und nun in Ruhe noch einmal all die unsinnigen Argumente durchzugehen, die Gleb Iwanowitsch vorgebracht hatte. Doch das ließ Gleb Iwanowitsch nicht zu, er suchte den Kampf und hielt Micha eine lange Liste von Fehlern und Irrtümern vor, von denen es nicht weit sei bis zum Verbrechen.
    Gleb Iwanowitsch zeigte sich in diesem Kampf ausdauernder und stärker als Micha, die Stimme, die aus seinem dünnen Hals drang, war kräftig und tief, als wäre er ein großer, dicker Mann und nicht so ein Hänfling.
    Micha war erschöpft, ließ Gleb Iwanowitsch schreien und wollte die beiden Umschläge mit den Fotokopien wieder an sich nehmen.
    »Ihre schädlichen Papiere bleiben hier! Die nehmen Sie nicht mit hier raus, keine einzige Zeile!«, schrie Gleb Iwanowitsch, als er sah, dass Micha nach den Umschlägen griff, und langte selbst danach.
    Nun zogen sie beide daran. Unter anderen Umständen hätte Micha längst angefangen zu lachen, aber das verlangte gegenseitiges Wohlwollen, diese Szene aber grenzte an Wahnsinn. Gleb Iwanowitsch schrie einzelne Wörter heraus, die nichts mehr mit dem Geschehenen zu tun hatten.
    »An die Wand stellen! Vorwärts! Kossatschow, vorwärts! Kossatschow, raustreten! Hurensöhne!«
    Am erstaunlichsten war die Erwähnung des Namens Kossatschow. Kossatschow, das war Gleb Iwanowitsch selbst.
    Auf das Geschrei hin schaute die Putzfrau Polina Matwejewna zur Tür herein, verschwand sofort wieder und kam kurz darauf mit einer weißen Tasse zurück, die sie Gleb Iwanowitsch unter die Nase hielt; zärtlich umschlang sie seinen unregelmäßig kahl werdenden Kopf, flößte ihm die Flüssigkeit ein und redete ihm gut zu.
    »Vorsichtig, schön vorsichtig trinken, Gleb Iwanowitsch, sonst bekleckern Sie sich mit dem Wasser.«
    Endlich begriff Micha, dass er einen Wahnsinnigen vor sich hatte, und er selbst hatte diesen Anfall provoziert, indem er auf ein ihm unbekanntes psychisches Hühnerauge getreten war.
    Polina Matwejewna bedeutete Micha mit Gebärden, die wie bei allen Angestellten des Internats sehr deutlich waren, er solle schnell abhauen. Micha schnappte sich die Umschläge und verschwand.
    Wolski! Wolski! Daniels Protagonist, der in der Psychiatrie endet! Auch der hier war ein Opfer! Diesen Gleb Iwanowitsch hatte dieselbe Kraft um den Verstand gebracht. Dämonen, Dämonen. Wie hieß es bei Woloschin? »Sie gehen auf der Erde um, sind blind und taubstumm, ungeheuer, und Zeichen setzen sie aus Feuer …« Er wiederholte es im Stillen. Und kehrte wieder zurück zu Gleb Iwanowitsch – auch der war vollkommen unschuldig. Diese bitteren Gedanken begleiteten Micha auf der Fahrt mit dem Bus zur Bahn, auf dem Rückweg nach Hause.
    Gleb Iwanowitsch war als psychisch krank registriert. Sein Lebenslauf hatte einen Knick. Im Krieg war er aus der militärischen Abwehr SMERSCH entlassen worden. Im Internat war er als Wirtschaftsleiter angestellt, nicht als Lehrer – nicht ohne Grund. Mit seiner Diagnose durfte er nicht mit Kindern arbeiten. Er war ein gutherziger Mensch, liebte Kinder und war nahezu fanatisch ehrlich, aber gerade diese Tugend verkehrte sich ins Gegenteil und veranlasste ihn, unverzüglich, gleich am nächsten Tag, eine Denunziation gegen Micha zu verfassen.
    Micha kam gar nicht in den Sinn, dass Gleb Iwanowitschs Denunziation bereits langsam, aber sicher auf dem Weg dorthin war, wo alle Hähne zugedreht, alle Wege versperrt wurden.
    Die allgemeine sowjetische Trägheit sowie das Gesetz der Koinzidenz von Unannehmlichkeiten sorgten dafür, dass die Entscheidung über Michas externe Doktorandenstelle just zu dem Zeitpunkt fallen sollte, als die Denunziation am Institut eintraf. Als der

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