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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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seltsam sprunghaft und berührte die verschiedensten Dinge: den sonderbaren Zufall, der sie zusammengeführt hatte, Menschen, die nichts miteinander verband – nicht die Vergangenheit, nicht die Zukunft, nicht das Blut, nicht das Schicksal –, und die Schönheit, die wie vom Himmel herabgefallen war …
    Der Mond glitt rasch an den Rand des Himmels und verschwand, und nach einer Stunde vollkommener, beruhigender Dunkelheit färbte sich im Osten ein Streifen rosa, und Mustafa sagte:
    »So viele Jahre habe ich an diesen Sonnenaufgang gedacht. Als Junge habe ich hier Vieh gehütet, tausendmal habe ich auf diese Berge geschaut und immer auf den ersten Sonnenstrahl gewartet. Manchmal kam er regelrecht hervorgeschossen … Ich dachte, ich würde das nie wiedersehen.«
    Als es hell geworden war, trennten sie sich – die jungen Leute wollten nach Tschufut-Kale, die tatarische Familie blieb auf dem Friedhof, wo Mustafa das Grab seines Großvaters suchen wollte.
    Sie verabredeten, sich um zwei an der Bushaltestelle zu treffen, um zusammen nach Moskau zu fahren.
    Am Busbahnhof ging es nicht ohne Miliz ab. Die jungen Leute bildeten einen Kreis um ihre Tataren, lärmten fröhlich, Shenja flirtete mit zwei Milizionären gleichzeitig, es fielen viele überflüssige Worte, und schließlich zückte Edik seinen – längst abgelaufenen – Journalistenausweis und hielt ihn dem Leutnant unter die Nase. Die Provinzmilizionäre waren schüchterner als ihre Moskauer Kollegen, oder Ediks schlaksige Gestalt und seine Hornbrille verunsicherten sie, jedenfalls öffnete der Bus die Türen, fauchte, und die sieben stiegen rasch ein und fuhren ab. Vielleicht aber hatten die uniformierten Burschen auch keine Lust auf überflüssigen Ärger gehabt …
    Im Zug lief alles wie geschmiert. Die Zugbesatzung bestand aus Kasachen, sie versorgte die »Schwarzfahrer« mit »schwarzen« Plätzen und schützte sie während der ganzen Reise vor Kontrolleuren; nach zwei vollen Tagen kamen sie am Kasaner Bahnhof an. Eine weitere halbe Stunde später saßen Micha und Aljona mit den tatarischen Gästen in Tante Genjas leidgeprüftem Zimmer. Am nächsten Tag flogen ihre neuen tatarischen Freunde, der ehemalige Hauptmann Usmanow, Held der Sowjetunion und einer der Initiatoren der Bewegung für die Rückkehr der Krimtataren in ihre Heimat, seine Frau Alije und seine Tochter Aische, von der sowjetischen Hauptstadt zurück in die Hauptstadt Usbekistans und waren am Abend wieder in ihrem Taschkenter Zuhause, wo sie von Freunden und Verwandten erwartet wurden. Der Kommunist und Held Usmanow legte eine Handvoll Steine vom alten muslimischen Friedhof Eski-Yurt auf ein Tablett.
    »Hier. Seht. Unsere Steine haben zu uns gefunden, und bald werden wir wieder zu unseren Steinen finden.«
    Von diesem Jahr an kamen häufig junge Tataren zu Micha nach Hause, mit den verschiedensten Petitionen und Protestschreiben. Sie nächtigten auf einer Luftmatratze auf dem Fußboden. Micha nahm sich die fremden tatarischen Sorgen mehr zu Herzen als die jüdischen Bemühungen um die Repatriierung nach Israel. Schließlich war die Vertreibung der Juden zweitausend Jahre her, das lag weit zurück, die der Tataren hingegen war noch frisch, noch waren nicht alle ihre Häuser und Brunnen auf der Krim zerstört, die Tataren erinnerten sich noch an die sowjetischen Soldaten, die sie deportiert, und an die Nachbarn, die ihre Häuser später besetzt hatten.
    Micha engagierte sich für die fremde Sache mit der ihm eigenen Empathie. Er half, Briefe aufzusetzen, sie zu verbreiten und Kontakte zu knüpfen. Mehrfach fuhr er im Auftrag von Tataren auf die Krim und stellte gemeinsam mit seinem neuen Freund Ravil einen Sammelband mit Erinnerungen an die Deportation von 1944 zusammen.
    Die Zeitschrift gaben er und Edik weiterhin heraus, doch ihr künstlerischer Teil wurde überraschenderweise immer dünner, der politische hingegen immer dicker. Sie führten eine neue Rubrik ein, »Randgebiete«, in der es um nationale Probleme ging, um aussterbende kleine Völker, um Zwangsassimilation. Edik mit seiner akademischen Ader bemühte sich, im Rahmen von Anthropologie und Demographie zu bleiben, was der Zeitschrift einen wissenschaftlichen Anstrich verlieh, ihre antiimperiale Tendenz jedoch nicht milderte.
    Ilja machte Fotokopien von allen acht Nummern von »Gamajun«. Die Auflage betrug normalerweise vierzig Stück. Eine vollständige Sammlung der Zeitschrift ist nicht erhalten, doch einzelne Exemplare kann man

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