Das gruene Zelt
in einigen Archiven finden, im Westen und beim KGB.
Micha traf sich mit Sanja fast ein Jahr lang nicht, und mit Ilja nur wegen der gemeinsamen Arbeit.
In der Nacht zum 1. August 1968 geschah etwas, das alles veränderte: Sowjetische Truppen marschierten in die Tschechoslowakei ein. Das heißt, eigentlich Truppen der fünf Bündnispartner. Aber zweifellos auf sowjetische Initiative. Die Operation trug den Namen »Donau«. Russische Panzer rollten durch Prag und versetzten damit der internationalen kommunistischen Bewegung einen gewaltigen Schlag.
Micha drehte die ganze Nacht an den geriffelten Knöpfen des alten Telefunken-Radios, der einzigen Hinterlassenschaft von Tante Genja, und hörte westliche Sender. Dubˇceks Konzeption von einem »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« war gescheitert, die letzten Illusionen waren zerstört.
So viele Jahre hatte Micha den Marxismus studiert, hatte herauszufinden versucht, warum die wunderbare Idee der sozialen Gerechtigkeit so verfälscht umgesetzt wurde, doch nun sah er es klar und nüchtern: Das Ganze war eine gewaltige Lüge, voller Zynismus, eine schamlose Manipulation der Menschen, denen die Angst, die das gesamte Land in eine dunkle Wolke hüllte, ihr menschliches Antlitz und ihre Würde raubte. Diese Wolke konnte man als Stalinismus bezeichnen, aber Micha ahnte bereits, dass der Stalinismus nur ein Sonderfall eines gewaltigen, weltweiten, zeitlosen Übels war – des Despotismus.
Micha wäre am liebsten auf die Straße gerannt, um seine Empfindungen jemandem mitzuteilen. Für den Anfang griff er zum Bleistift. Er wollte Verse schreiben, stattdessen wurde es ein zorniger publizistischer Text. Drei Tage lang kämpfte Micha mit den Worten, verhedderte sich darin, denn er konnte das Ganze nicht so klar und überzeugend formulieren, wie es ihm auf der Seele lag. Aber sein Gefühl sagte ihm: Wenn ich die richtigen Worte finde und ausspreche, dann werden alle verstehen und mir zustimmen …
Am Sonntag, dem 25. August, rief Sergej Borissowitsch an und bat sie, sofort zu kommen. Von ihm erfuhren sie das Neueste: Auf dem Roten Platz hatte eine Demonstration gegen den Einmarsch der Truppen in die Tschechoslowakei stattgefunden. Die Namen der sieben Teilnehmer waren bekannt. Alle bis auf eine Frau, die sich mit einem drei Monate alten Kind auf dem Arm und einer tschechischen Fahne in der Hand vor die alte Richtstätte gesetzt hatte, waren bereits verhaftet.
»Natalja Gorbanewskaja!«, vermutete Micha.
Tschernopjatow bestätigte das. Die Wohnung war voller Leute. Sie berieten bereits, wer den Protestbrief unterschreiben würde und an welche Stellen er geschickt werden sollte. Micha schloss sich in Aljonas altem Zimmer ein und beendete seinen Text, den er in all diesen Tagen nicht hatte vollenden können. Jetzt, nach der Demonstration, schrieb er alles um, setzte andere Akzente und betitelte ihn: »Die fünf Minuten der glorreichen Sieben an der Richtstatt«. Er zeigte ihn Tschernopjatow, doch der verzog das Gesicht.
»Micha! Wie immer viel zu viel Pathos.«
Am Abend zeigte er den Text Edik und Ilja.
Edik fand ihn zu wortreich und verschwommen. Ilja nahm die Blätter kommentarlos an sich.
Zwei Tage darauf sendete die »Stimme Amerikas« eine Information über die Kundgebung auf dem Roten Platz – über die fünf Minuten der glorreichen Sieben! Das Material war ein wenig korrigiert und gekürzt worden. Aber es war Michas Text!
Sie hatten ihn also weitergegeben! Einer von beiden: Ilja oder Edik. Unglaublich!
Alle waren angespannt und zogen sich zurück. In der ganzen Stadt gab es Haussuchungen und Verhaftungen. Sie zählten die Opfer. Die menschlichen Opfer waren – wenn man den Maßstab des Jahrhunderts anlegte – im Grunde gering: rund hundert getötete Bürger auf tschechischer Seite und zwölf sowjetische Militärangehörige. In der Tschechoslowakei waren nach der erfolgreich beendeten Aktion rund zweitausend Personen verhaftet worden, in Russland lediglich die sechs Demonstranten vom Roten Platz und ein Dutzend ruhmloser Unbekannter in der Provinz.
Es wurde ein großer Prozess gegen die Teilnehmer der Demonstration vorbereitet. Tschernopjatow kannte sie alle, sämtliche Informationen über die Prozessvorbereitungen liefen bei ihm zusammen.
Micha und Edik wollten zu Neujahr eine ganze Nummer des »Gamajun« der Bewegung der Krimtataren widmen. Am schlechtesten war es um den literarischen Teil bestellt, aber Micha machte sich mit Hilfe seiner tatarischen
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