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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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der Innentasche seines Jacketts und legte sie auf den Tresen.
    Sein Jackett war alles andere als neu und auf dem Rücken schon ausgebleicht. Doch darauf prangten von der Schulter bis fast zur Taille Ordensbänder und Kriegsorden.
    Die mürrische Hotelangestellte legte die Ausweise der Moskauer Reisenden beiseite, schlug die der Neuankömmlinge auf und schüttelte den Kopf.
    »Kein Zimmer frei.«
    »Was soll das heißen? Sie lügen! Es gibt doch Zimmer!«, empörte sich Micha. »Wir haben zwei, seien Sie so gut und geben Sie eins davon dieser Familie.«
    »Für Sie sind auch keine Zimmer frei.« Die Frau schob Micha die vier Ausweise hin.
    »Wieso? Wir hatten doch reserviert!«
    »Wir beherbergen in erster Linie Dienstreisende, dann erst Rucksacktouristen. Es ist nichts frei.«
    »Wir sind zweitausend Kilometer weit gereist, um die Gräber unserer Ahnen zu besuchen, hier sind unsere Tickets, in zwei Tagen fliegen wir zurück nach Taschkent.« Der Tatare gab die Hoffnung nicht auf.
    »Verstehen Sie kein Russisch oder was? Es ist nichts frei!«
    »Ich verstehe Russisch. Vielleicht könnten wir privat irgendwo für eine Nacht unterkommen?«
    »Bleiben Sie, wo Sie wollen! Das geht mich nichts an! Aber dann werden Sie sich für die Verletzung der Meldepflicht verantworten müssen.«
    Micha kochte – auf Ungerechtigkeit reagierte er geradezu physisch; er fühlte das Blut in seinen Schläfen pochen, und seine Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten.
    »Diese Schweine, was für Schweine«, flüsterte er Edik zu. »Kapierst du, was hier vorgeht? Das sind tatarische Vertriebene …« Erst vor ein paar Tagen hatten die Freundinnen von Maria Stepanowna ihnen von den Ereignissen im Mai 1944 erzählt, diese Informationen waren noch frisch, die Empörung über die gewaltige Ungerechtigkeit loderte noch. »Der Mann hat an der Front gekämpft, und seine Familie wurde vertrieben!«
    »Mach keinen überflüssigen Lärm«, flüsterte Edik. »Uns fällt schon was ein!«
    Der tatarische Ordensträger wickelte die Ausweise bedächtig in ein Seidentüchlein und verstaute sie sorgsam tief in der Innentasche seiner Jacke.
    »Verschwinden wir, schnell. Sie ruft doch gleich die Miliz!«, flüsterte Edik dem kleinen Tataren ins Ohr, wozu er sich tief hinunterbeugen musste.
    Der nickte verstehend, und sie gingen zur Tür, auf die Straße, wo es bereits stockfinster war, doch die Dunkelheit wirkte beruhigend und gefahrlos im Gegensatz zu dem scheußlichen offiziellen Ort mit der elektrischen Beleuchtung.
    Die Hotelangestellte Natascha Chlopenko drehte bereits die Wählscheibe des Telefons, um die Miliz anzurufen – das war nun einmal ihre Pflicht: Tataren, die nach Bachtschissarai kamen, musste sie melden. Aber bei der Miliz nahm niemand ab, und sie legte erleichtert auf. Ihre Mutter war Karaimin 15) , ihr Vater ein zugereister Ukrainer, und sie empfand zwar kein besonderes Mitgefühl für die vertriebenen Tataren, wollte aber nicht in diesen lange zurückliegenden Krieg der Völker hineingezogen werden, der auch sie ein wenig betraf. Aber eben nur ein wenig.
    15) Karaim – jüdische Volksgruppe auf der Krim. Anm. d. Ü.
    Die sieben Menschen verließen das Hotel, und der Tatare führte diesen Exodus schweigend an.
    »Kommt, ich weiß einen Ort, wo wir die Nacht bleiben können. Ihr habt doch keine Angst vor Friedhöfen?«
    »Nein, gehen wir«, erwiderte Edik.
    Obgleich es schon ganz dunkel war, lief der Tatare zielstrebig gen Westen, sanft bergauf.
    Nach rund zwei Kilometern erreichten sie einen alten tatarischen Friedhof.
    Die Ruinen eines kleinen Mausoleums wirkten eher behaglich als bedrohlich. Womöglich übertrug sich aber auch das Vertrauen des Tataren zu diesem Ort auf die jungen Leute. Sie setzten, nein, sie legten sich an den Hang – die Neigung war so bequem wie ein hohes Kissen. Edik holte eine Flasche Krimportwein aus dem Rucksack, Shenja den im Laden erstandenen Schafskäse, eingelegte Tomaten und Brot – sie hatten ja im Hotel essen wollen.
    Feuer machten sie nicht. Plötzlich ging der Mond auf, leuchtete mit seiner ganzen Vollmondkraft, und man sah jeden Stein, jeden kleinen Zweig. Selbst die beiden dicken Zöpfe des tatarischen Mädchens glänzten im Mondlicht, und die silbernen Armreifen glitzerten. Ihre Mutter wickelte ein Leintuch auf, förderte tatarische Pasteten zutage, und sie aßen alle zusammen, in feierlichem Schweigen und innigem Einvernehmen.
    Ein Gespräch kam erst nach dem Essen langsam in Gang – es war

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