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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Freunde auf die Suche und fand einen krimtatarischen Dichter, der in Usbekistan lebte – E¸sref ¸Semi-zade. Die Tataren fertigten für Micha eine Interlinearübersetzung an, und er dichtete Auszüge aus einem fast vergessenen Poem nach. Es war mit lebendigem Blut geschrieben, und Micha quälte sich sehr, bis er es übersetzt hatte:
    Es ist kein Hund, der da im Dunkeln schrecklich heult
in Moskau durch die kalte Nacht,
der Herr des Kreml ist es, wittert Blut,
und gierig heult er, knurrt und wacht …
    Kurz vor Silvester erlebte Micha seine Feuertaufe – die erste Haussuchung.
    Vier Männer wühlten lange in dem kahlen Zimmer herum und klopften, entmutigt von dessen vollkommener Transparenz, sogar die Wände ab. Auf einem Regal fanden sie zwischen den Büchern ein dickes Konvolut Briefe, das der verstorbenen Tante Genja gehört hatte. Die Briefe waren in graues Papier eingeschlagen und mit festem Bindfaden nach Jahren sortiert zusammengebunden, auf jedem Bündel stand das Jahr – von 1915 bis 1955. Es waren genau vierzig Briefe. Der familiäre Briefwechsel mit Verwandten im Gebiet Archangelsk, in Karaganda und im Ural. Micha hatte die Briefe entdeckt, als er Tante Genjas Schrank wegschaffte, und auf Marlens Bitte hin hatte er sie behalten, aus Taktgefühl jedoch nicht gelesen, und nun wickelten die KGB-Leute rasch die Bindfäden ab, doch als sie die uralten Jahreszahlen sahen, verloren sie das Interesse. Zu Unrecht: Die Bündel enthielten unter anderem den Briefwechsel zwischen dem legendären Onkel Samuil und Lenin sowie zwischen ihm und Trotzki. Auch einen hochinteressanten Brief, in dem Lenin Samuil dazu anstiftete, eine geheime, vom Staat unabhängige Finanzquelle zur Förderung der kommunistischen Weltbewegung aufzubauen.
    »Das sind Briefe meiner Tante, ihr Sohn wollte sie abholen und durchsehen«, erklärte Micha und griff nach dem Packen.
    »Das hätte er früher tun müssen.« Der dienstälteste KGB-Mann entriss Micha grob die Briefe.
    Das Ganze dauerte rund zwei Stunden. Zu finden gab es nichts, nirgends.
    Eher aus Pflichtgefühl packten sie die Privatbriefe ein, außerdem ein Dutzend vorrevolutionärer Gedichtbände, fast durchweg Geschenke von Ilja, die Fotokopie eines Berdjajew-Bandes, den Micha immer hatte lesen wollen, wozu er aber nie gekommen war, und eine kleinformatige zweibändige Ausgabe von Doktor Shiwago , die er von Pierre Sand bekommen hatte.
    Sämtliche Materialien für die Zeitschrift hatte Micha immer gleich zu Edik gebracht. Es war nichts im Haus. Und dennoch … als er den zweibändigen Pasternak in den Händen der Männer sah, durchfuhr es ihn heiß. Er erinnerte sich an ein mit kleiner Schrift bedecktes Blatt Papier. Und daran, wohin er es gesteckt hatte, als die Nachbarin ihn ans Telefon gerufen hatte, das im gemeinsamen Flur an der Wand hing – in das erstbeste Buch.
    Nach dem Telefonat hatte er nach dem Blatt gesucht, es nicht gefunden, kapituliert und den Text aus dem Gedächtnis rekonstruiert. Nun aber fiel ihm ein, dass er dieses Blatt in einen der Doktor Shiwago -Bände gesteckt hatte.
    Das Blatt war wertvoll: Micha hatte für die nächste Nummer der Zeitschrift eine demographische Notiz über die während des Krieges von der Krim vertriebenen Tataren vorbereitet. Krimtataren hatten eine Befragung der sogenannten »Sonderumsiedler« und ihrer Nachkommen in Mittelasien durchgeführt und die alten, längst vergessenen Daten um neue ergänzt. Hunderte tatarische Umsiedler hatten das Material zusammengetragen.
    Auf dem bewussten Blatt stand in kalligraphischer Schrift unter der roten Überschrift DIE TATAREN :
    »1783 – rund 4 Mio. Menschen – die tatarische Bevölkerung zum Zeitpunkt des Anschlusses der Krim an Russland.
    1917 – die tatarische Bevölkerung umfasste 120 Tsd.
    1941 – tatarische Bevölkerung der Krim – 560 Tsd.
    1941–1942 – 137 Tsd. Männer zum Armeedienst einberufen, davon 57 Tsd. gefallen
    1944 – 420 Tsd. Personen (200 Tsd. Kinder) Zivilbevölkerung
    1944 18. – 20. Mai – an der Deportation beteiligt waren 32 Tsd. NKWD-Soldaten
    1944 18. Mai – nach Mittelasien deportiert 200 Tsd. (offizielle Angaben)
    1945 – 187 Tsd. Sonderumsiedler umgekommen (laut offiziellen Angaben 80 Tsd.)
    1956 – die Tataren Mittelasiens gelten nicht mehr als Sonderumsiedler, dürfen aber nicht auf die Krim zurückkehren.«
    Darunter stand eine Notiz mit blauer Tinte:
    »Rotkopf! Denk dran, alle offiziellen Zahlen (z. B. über die Deportation) sind niedriger

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