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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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angesetzt, nach unseren Daten sind 42% der Sonderumsiedler in den ersten anderthalb Jahren umgekommen. Das stimmt nicht mit den offiziellen Zahlen überein. Sie geben alles niedriger an. Ravil macht dir noch eine Übersicht von 1945 bis 1968. Mussa.«
    Blieb nur die Hoffnung, dass sie das Buch nicht aufschlagen und das Blatt nicht finden würden. Außerdem war Micha froh, dass Aljona an diesem Tag bis spät im Institut geblieben war und die KGB-Leute nicht mehr antraf.
    Als sie fort waren, rief Micha sofort bei Edik an, aber es hob niemand ab.
    Am nächsten Morgen fuhren Micha und Aljona zu Edik. Seine Mutter Jelena Alexejewna erzählte ihnen unter Tränen, dass bei ihnen gestern um dieselbe Zeit ebenfalls eine Haussuchung stattgefunden habe. Allerdings mit weit weniger glücklichem Ausgang. Sie hatten Edik mitgenommen, und er war noch immer nicht zurück. Sie hatten viele Entwürfe gefunden, Materialien der letzten Zeitschriftennummer mit Bleistiftkorrekturen, außerdem hatten sie fünf Nummern des »Westnik RChD« und einen Haufen weitere Samisdatausgaben beschlagnahmt. Und mehrere Fotokopien des vielleicht antisowjetischsten Buches überhaupt, das mit dem Vermerk »streng geheim« in kleiner Auflage für die Parteielite gedruckt worden war – Awtorchanows Technologie der Macht .
    Auch das Zimmer von Jelena Alexejewna war einer »Desinfizierung« unterzogen worden: Beschlagnahmt wurden zwei Exemplare der Bibel, eine kleine Buddha-Figur, eine Gebetskette und Fotokopien buddhistischer Texte. Die Männer wollten von der Hausherrin wissen, in welcher Sprache dieses antisowjetische Zeug geschrieben sei. Sie versuchte ihnen zu erklären, dass sie Buddhismusforscherin von Beruf sei, sich mit dem Fernen Osten beschäftige, und die beiden Sprachen, mit denen sie hauptsächlich arbeite, wären Sanskrit und Tibetisch. Das Papier, das sie in der Hand hielten, war die Kopie eines Dokuments aus dem siebten Jahrhundert.
    Die sagenhafte Unbildung der Männer hatte einen gewissen Charme: Als einer von ihnen Jelena Alexejewna zuflüsterte, er wisse Bescheid über die buddhistischen Blutopfer, konnte sie sich trotz aller Angst das Lachen nicht verbeißen. Auch jetzt, als sie davon erzählte, lächelte sie. Sie wusste, dass man ihr die Kopien zurückgeben würde, und wenn nicht, dann eben nicht, aber um die Familienbibel tat es ihr leid, auf der letzten Seite standen die Namen der ersten Besitzer.
    Sie beschlossen, zu Sergej Borissowitsch zu fahren und sich mit ihm als einem erfahrenen Mann zu beraten. Seine Wohnung war wie immer voller Leute: Ein kürzlich entlassener Häftling auf der Durchreise nach Rostow, ein Orientale aus Mittelasien, eine ältere Dame mit dem blumigen Namen Malva, der Micha schon einmal irgendwo begegnet war, und Juli Kim höchstpersönlich, mit Gitarre. Manche tranken Tee oder Kaffee, andere Wodka oder Wein. Aljona verzog das Gesicht – diese Atmosphäre von Bahnhof, Nachtasyl und Durchgangslager hatte sie immer geärgert. Micha zog seinen Schwiegervater in eine stille Ecke und erzählte ihm, wie es um Edik stand. Sollten sie vielleicht in die Sprechstunde der Kreisverwaltung des KGB gehen? Oder zur Hauptverwaltung des KGB?
    »Ob du hingehst oder nicht – sie dürfen jeden bis zu siebzig Stunden ohne Anklage festhalten.« Sergej Borissowitsch kannte sich seit seiner Jugend mit den Gepflogenheiten des KGB aus. »Vermutlich würdet ihr jetzt gar nichts erfahren. Erst in drei Tagen habt ihr Klarheit.«
    Micha fuhr zu Ilja, Jelena Alexejewna und Shenja fuhren zur Kusnezki-Brücke, in die Sprechstunde des KGB.
    Ilja sagte, in dieser Nacht habe es sieben oder acht Haussuchungen bei verschiedenen Leuten gegeben – vier seien festgenommen worden, zwei jedoch bald wieder freigelassen. Von Edik wusste Ilja nichts.
    Edik Tolmatschow kam nicht nach drei Tagen frei. Er wurde angeklagt nach Paragraph 190 StGB: »Verbreitung von Lügen zur Verunglimpfung der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung der UdSSR«.
    Wieder ging Micha ratsuchend zu seinem erfahrenen Schwiegervater, diesmal wegen der Zeitschrift. Er wollte sie weiter herausgeben, war sich aber nicht sicher, ob er etwas so Schwieriges und Verantwortungsvolles allein bewältigte. Zudem war ja sämtliches Material für die nächste Nummer konfisziert worden. Aber Micha wusste, wie er es wiederbeschaffen konnte.
    Sergej Borissowitsch war kategorisch dagegen: Nein, jetzt sei die falsche Zeit. Micha würde umgehend Schiffbruch erleiden.
    Was Micha selbst anging,

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