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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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sollte, der Witwe von Alexander Grin. Seine Assol hatte ihre Haft bereits abgesessen und war nach Stary Krim zurückgekehrt, zu ihren Witwenpflichten. Nein, lieber zu Faina Lwowna, entschied Maria Stepanowna, und gab ihnen einen Brief an die Dame mit, deren Mann, ein Dentist, allen Alteingesessenen die Zähne richtete.
    Nach Hause wollten sie über Simferopol fahren, mit einem Abstecher nach Bachtschissarai, den Maria Stepanowna für unerlässlich erklärte, denn das sei das Herz der Krim. Die Route war ein wenig umständlich: von Stary Krim nach Bachtschissarai, dort übernachten und am Morgen von Bachtschissarai nach Simferopol, zum Bahnhof.
    In Stary Krim war schon der Frühling angebrochen – die Bäume schimmerten grün, die Einwohner waren in ihren Gärten beschäftigt, bereiteten die Beete vor und pflanzten Setzlinge. Die Mandelbäume blühten.
    Micha und Edik erörterten den ganzen Weg über das Wesen der Sowjetmacht, die nach Michas Ansicht an der Peripherie schwächer und auch menschlicher sei als im Zentrum. Edik widersprach ihm. Er meinte sogar, dort sei sie noch härter und abgestumpfter.
    Shenja und Aljona gingen wie orientalische Frauen hinter ihren Männern und sprachen über die Kunst. Aljona hatten Woloschins Aquarelle, die im ganzen Haus hingen, nicht sonderlich gefallen, Shenja aber hielt hitzig dagegen, man dürfe diesen Künstler nicht nach den Resultaten seiner Tätigkeit beurteilen – nach seinen Bildern oder Gedichten –, seine Größe sei geistiger Natur, und nur wenn man ihn von einer höheren Warte aus betrachte, werde die wahre Größe seiner Persönlichkeit erkennbar. Shenja war ein gebildetes Mädchen, sie las Französisch und Englisch, kannte sich sogar mit Anthroposophie aus, und das ärgerte Aljona ein wenig.
    In Stary Krim aßen sie bei Faina Lwowna, die sie wie Gesandte eines befreundeten Königreichs mit großem Zeremoniell empfing. Sie hatte eine sehr lange Kette angelegt, das Kleid mit der tiefsitzenden Taille trug sie schon seit NÖP-Zeiten, genau wie die kesse Locke, die an ihrer Stirn klebte. Sie setzte ihren Gästen ein bescheidenes, aber einfallsreiches Mahl vor – Bohnensuppe und Bratlinge aus einer undefinierbaren Grützmasse mit Fruchtsoße.
    Sie liefen über den Friedhof und streiften um das Haus von Alexander Grin herum. Es war geschlossen, wirkte aber, als seien seine Bewohner nur kurz ausgegangen.
    Bachtschissarai erreichten sie am späten Nachmittag, per Anhalter. Dem Rat von Maria Stepanowna folgend, gingen sie zu einer Angestellten des Heimatkundemuseums. Sie erschien ihnen sofort vertraut, als wären sie ein Leben lang miteinander bekannt. Auf der Krim existierte eine Art geheimer Orden der »Ehemaligen«. Sie waren im Besitz des unerklärlichen Geheimnisses der Krim, in das sie zwar flüchtige Einblicke gewährten, aber im Grunde behielten sie ihr Wissen für sich. Die Museumsangestellte stammte zwar nicht einmal von der Krim, sondern aus Petersburg, schien aber auch zu den Geheimnishütern zu gehören. Sie zeigte den jungen Leuten Wachsfiguren von Haremsfrauen und Eunuchen, Kupferkrüge, den Springbrunnen, der sich noch an Puschkin erinnerte, und die »Säulen, drunter manch ein Khan begraben liegt«. Die Museumsfrau versprach, sie am nächsten Morgen nach Tschufut-Kale zu bringen, ein Nachtlager aber könne sie ihnen nicht anbieten, weil ihre Tante aus Piter gerade zu Besuch sei.
    Gegen Abend gingen sie ins Hotel – die übliche Provinzscheußlichkeit. Sie stellten ihre Rucksäcke zunächst in die Gepäckaufbewahrung, eine kleine Kammer neben der Rezeption, und ließen sich Zimmer reservieren. Dann streiften sie durch die dunkle Stadt und suchten ein Lokal, um etwas zu essen. Ein Lokal fanden sie nicht, aber ein Geschäft, in dem sie fünf Minuten vor Ladenschluss noch ein paar Lebensmittel auftrieben.
    Im Hotel holte Micha die Rucksäcke aus der Gepäckkammer und kramte darin nach den Ausweisen. Er legte sie der Rezeptionistin hin. Sie vertiefte sich in die Lektüre der hinteren Seiten – wo sie gemeldet und ob sie verheiratet waren.
    Indessen kam eine Familie herein: Mann und Frau, beide nicht mehr jung, mit einer etwa vierzehnjährigen Tochter. Tataren, angereist aus Mittelasien – das verrieten die Tjubetejka des Mannes, das gestreifte Kopftuch der Frau, ihre breiten Wangenknochen, die dicken silbernen Armreifen mit den roten Karneolen an den schmalen Handgelenken des Mädchens und die Anspannung in ihren Gesichtern. Der Mann zog zwei Ausweise aus

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