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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Maximilian Woloschin. Die Landschaft – dunstig, verschwimmend, milchig-opak – fesselte den Blick. Dem Bus kamen Kolonnen von Lastern entgegen: Sie transportierten tonnenweise Koktebel-Sand, der dringend für irgendwelche volkswirtschaftlichen Zwecke gebraucht wurde. Die Reisenden ahnten nicht, dass hier vor ihren Augen eine kostbare uralte Küste zerstört wurde. Menschen, die das wussten, gab es hier kaum noch.
    Sie stiegen aus dem Bus, hörten zum ersten Mal das Brüllen des Schwarzen Meeres und folgten dem magischen Geräusch. Das Meer tobte schon die zweite Woche, getreu seinen saisonalen Gewohnheiten. Mit den Augen konnte man es noch weniger erfassen als mit den Ohren. Für Micha und Shenja war es die erste Begegnung mit dem Meer. Aljona war mit ihren Eltern schon einmal im Kaukasus gewesen, und auch Edik hatte schon ein Meer gesehen, allerdings ein ganz anderes – die Ostsee.
    Auf der Uferstraße schlugen sie die Richtung zum Woloschin-Haus ein, der Regen hatte inzwischen aufgehört. Sie mussten niemanden fragen – der Weg führte sie von selbst. Sie erkannten das Haus sofort – an seinem Gesicht, an dem Turm, daran, dass es anders war als alles, was hier nach der Revolution und nach dem Krieg gebaut worden war. Sie setzten sich unterhalb des Hauses auf die Steine. Packten eine Flasche Wein und die Reste ihres Moskauer Proviants aus.
    Micha konnte nicht mehr an sich halten – er begann zu rezitieren. Schon im Zug hatte es ihn dazu gedrängt, aber da hatten ihn die anderen übertönt.
    Wie in der Muschel großer Ozeane
der riesenhafte Atem brennt so heiß,
wie zart ihr Körper schimmert glänzend weiß
im Schillern silberiger Nebelbahnen,
und ihre Krümmungen gespiegelt sind
in jeder Welle, die sich regt im Wind –
so ist mein ganzes Herz in deinen Buchten,
im dunklen Land noch immer unentdeckt
in Ewigkeit verwandelt und versteckt.
    Der Wind zerrte an ihren Jacken und trug die Worte fort. Sie rückten eng zusammen, und Micha konnte nicht aufhören. Sie bemerkten nicht, dass eine füllige alte Frau in einem riesigen abgetragenen Mantel, mit einem kunstvollen Spazierstock und einer über der Nase notdürftig geklebten trüben Brille neben ihnen stehenblieb und aufmerksam zuhörte.
    »Kommt mit ins Haus.« Die gastfreundliche Einladung widersprach ihrem düsteren und strengen Äußeren. Und es geschah, wovon sie nicht zu träumen gewagt hatten …
    Sie wurden von Maria Stepanowna, Woloschins Witwe, kurzerhand in sein Haus geführt. Im Erdgeschoss, das damals »Haus 1« hieß, wurden normalerweise Bergarbeiter aus dem Donbass mit gewerkschaftlichen Ferienschecks einquartiert, doch sie waren noch nicht angereist. Die Witwe kämpfte gegen diese Überfälle, so gut sie konnte, aber sie konnte nicht viel dagegen ausrichten. Sie schloss den jungen Leuten zwei Zimmer im Erdgeschoss auf.
    »Ihr könnt hier wohnen, solange die Fremden noch nicht da sind.«
    Bei Maria Stepanowna verbrachten sie einige glückliche Tage. Micha und Edik erledigten zahlreiche einfache Arbeiten am Haus. Shenja und Aljona wischten die Fußböden und den Staub von den Büchern auf den oberen Regalen. Einen ganzen Tag widmeten sie der Pflege von Woloschins Grab. Micha und Edik befestigten den Weg an einer Stelle, wo er im Winter eingebrochen war.
    Abends saßen sie in Woloschins eiskaltem Arbeitszimmer unter der riesigen Skulptur der Königin Teje, die in allen Erinnerungen beschrieben ist, tranken Tee und unterhielten sich. Manchmal schauten dann Frauen im vorgerückten Alter aus dem Ort vorbei, alte Mädchen und Hutzelweiblein, oder junge Schriftsteller aus dem »Haus des Schaffens«. Einmal kam ein berühmter Jungdichter mit einer Kanne Wein, das nächste Mal sein Konkurrent. Sie hassten einander inbrünstig, doch den Traditionen des Hauses getreu stritten sie sich nicht, wenn sie hier an diesem Tisch zusammentrafen.
    In den Augen von Micha und Edik waren die beiden allzu sowjetisch und angepasst. Aber wie sich später herausstellen sollte, waren sie nicht schlechter und nicht besser als jene, die sich am Majakowski-Denkmal versammelten.
    Als die jungen Leute nach Hause aufbrechen wollten, erklärte Maria Stepanowna, sie müssten unbedingt noch nach Stary Krim. Das sei nicht ganze nah, siebzehn Kilometer, aber ohne diese Wanderung, so sagte sie, würden sie nicht dazugehören.
    »Dort könnt ihr rasten, eine Bekannte von mir wird euch aufnehmen.«
    Maria Stepanowna überlegte, ob sie die jungen Leute zu ihrer »Konkurrenz« schicken

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