Das gruene Zelt
so hatte er Geschmack an dieser eigenartigen Aufgabe gefunden. Wie er sich früher mit Leib und Seele für die Sprachförderung bei Taubstummen engagiert hatte, so empfand er nun diese Tätigkeit als die wichtigste in seinem Leben. Er bildete sich ein, das Schicksal der künftigen russischen Poesie liege in seinen Händen. Als habe er von höherer Stelle einen Auftrag bekommen – für die Zukunft alles Wertvolle zu bewahren, das durch Zufall, dank der Unachtsamkeit der Behörden, noch existierte.
Einen klugen Rat bekam er von Ilja.
»Führ die Zeitschrift nicht weiter, Micha, mach eine neue. Ändere den Namen. Nimm wieder einen Vogel, das wäre witzig. Mit der Poesie kommst du selber zurecht, und ich mach dich mit Malern und Graphikern bekannt. Ich kenne auch ein paar Kunstwissenschaftler, die sind klasse. Die neue Avantgarde. Ich helfe dir mit Kontakten, ich kenne viele tolle Leute. Mach eine Kunstzeitschrift. Die Politik, die kommt von selber dazu.«
Drei Monate vergingen. Als Micha es schon müde war, auf eine Vernehmung wegen der Zeitschrift zu warten, fand er eine Vorladung vom KGB im Briefkasten.
Aljona ging es nicht gut, sie vermutete, sie sei schwanger, sagte Micha aber vorerst nichts davon. Sie schwieg tagelang, wie es bei ihr hin und wieder vorkam. Dafür redete er ununterbrochen: von Edik, von dem Anwalt, den Freunde aufgetrieben hatten, von der Zeitschrift, der alten und der neuen, von Sanja Steklow, der sie plötzlich ins Konservatorium einlud, nachdem er ein halbes Jahr lang nicht einmal angerufen hatte …
Die Vorladung konnte zwei Gründe haben. Entweder sie hatten den Pasternak-Band durchgeschüttelt und das Blatt mit dem tatarischen Zahlenmaterial gefunden, oder Edik hatte ihn als seinen Mitarbeiter angegeben. Letzteres erschien Micha wenig wahrscheinlich.
Er empfand keinerlei Verdruss. Eher Verlegenheit, weil er so wenig getan hatte – lächerlich wenig! Er hatte nur ein paar Artikel geschrieben und die Poesie-Auswahl für mehrere Nummern besorgt.
Ilja, dem er von der Vorladung erzählte, war bestürzt.
»Das war zu erwarten. Ich hab mich schon gewundert, warum sie dich in Ruhe lassen. Das ist alles meine Schuld, ich hab dich in diese Zeitschriftensache reingezogen. Jetzt müssen wir sehen, wie wir da rauskommen. Edik ist stark, ich glaube nicht, dass er dich verraten hat. Sie nehmen dich bestimmt wegen der tatarischen Statistik in die Mangel. Du musst eine gute Geschichte parat haben – den Shiwago hast du vor langer Zeit gekauft, auf dem Flohmarkt, weil du viel davon gehört hattest, bist aber noch nicht dazu gekommen, ihn aufzuschlagen. Von dem Papier weißt du nichts. Kaufen kann man solche Bücher neben dem Antiquariat auf der Kusnezki-Brücke, beim Erstausgabenladen gibt es einen Schwarzmarkt, oder noch besser, auf dem Vogelmarkt, gleich am Eingang. Und liefere ihnen eine ausführliche Beschreibung des Verkäufers. Sag zum Beispiel, er hatte lange Haare, so schmuddelige Zotteln, eine ganz lange Nase, bis fast auf die Oberlippe, braune Augen, und er sprach mit ukrainischem Akzent. Und so eine Glitzerweste …« Ilja sah seinen Freund prüfend an.
»Oder – so ein Kleiner mit Locken und gelocktem Backenbart, Hakennase, helle Augen, kleine Hände, wie eine Frau … Und er konnte kein richtiges R aussprechen. Oder: So ein nervöser Typ, dünn, ziemlich groß, ganz gelb im Gesicht, Stirnglatze, schütteres Bärtchen und Zuckungen, eine Art Tick …«
Micha spielte mit.
»Nein, so ein großer Kerl mit Rauschebart, gekleidet wie ein Bauer. Ein ziemlich ungepflegter Typ, würde ich sagen. Die Bücher hatte er in einem Sack, und an den Füßen trug er Filzstiefel und Galoschen! Zum Fürchten!«
Beide wälzten sich vor Lachen fast am Boden.
»Nein, lieber eine Dame: eine große, füllige ältere Dame von aristokratischem Äußeren. Hütchen auf dem Kopf, Schirm, die Bücher hat sie aus ihrer Handtasche genommen, und sie trug Handschuhe, und wissen Sie, das war komisch, sie hatte den linken und den rechten verwechselt … Wegen der Handschuhe erinnere ich mich überhaupt an sie …« Micha hatte Geschmack an dem Spiel gefunden.
»Also, Micha, was kann ich dir raten? Sag zu allem nein, das ist das Sicherste. Das weiß ich aus eigener Erfahrung.«
»Du warst schon mal dort?«, fragte Micha voller Respekt.
»Ja. Aber ich hab mich rausgewunden. Das ist am besten – gar nichts sagen. Denk dran, alles, was du sagst, werden sie gegen dich verwenden. Egal, was … Verstehst du, wir sind in
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