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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Stimme:
    »Du hast doch gar nichts gemacht, du könntest morgen hier raus sein. Du reitest dich bloß selber rein. Wir lassen dich doch hier verfaulen.«
    Micha wiederholte teilnahmslos immer dasselbe:
    »Ich sieze sogar meine minderjährigen Schüler. Ich bitte Sie, mich mit Sie anzureden.«
    Der Vernehmer hieß Melojedow. Micha mit seinem sensiblen Gehör fiel der Gleichklang sofort auf – Melojed und Melamid. Außer den drei Buchstaben ihres Namens hatten sie nichts gemein. Melojedow, das musste man ihm lassen, war nicht blutrünstig, er galt in seinen Kreisen fast als liberal (bei denen, die dieses Wort kannten). Zudem hatte er den rothaarigen Burschen anfangs für eine zufällige Nebenfigur in einem fremden Stück gehalten. Seine Akte enthielt den schon recht alten Bericht von Gleb Iwanowitsch aus der Taubstummenschule und eine vage Notiz über Kontakte zur Tatarenbewegung. Nach Paragraph 70 – Propaganda und Agitation – sah es hier nicht aus, und den 190er – Verbreitung von Lügen zur Verunglimpfung der Sowjetmacht – musste man ihm erst einmal nachweisen. Eine einzige Denunziation eines Verrückten war ein bisschen wenig, zumal diese Kerle sehr gute Verteidiger hatten.
    Micha konnte nicht ahnen, dass seine Inhaftierung bereits beschlossene Sache war und die Obrigkeit nur noch in Ruhe überlegte, für welches Vergehen er einsitzen sollte.
    Schließlich war die Entscheidung gefallen, die Verhöre wurden zielgerichteter, und nun wurde Micha klar, dass er nicht wegen der Zeitschrift dran war, sondern in einem separaten Verfahren wegen der Bewegung der Krimtataren. Edik war inzwischen bereits zu einer Haftstrafe verurteilt worden.
    Micha verweigerte die Aussage, unterschrieb nichts und antwortete nur auf nebensächliche Fragen »außerhalb des Protokolls«. Er wirkte sogar freundlich, verneinte aber kategorisch jede Beteiligung an der Bewegung und blieb dabei, die Notiz mit den tatarischen Zahlen nicht zu kennen.
    Melojedow, der überzeugt gewesen war, dass er Micha nach einer Stunde zum Reden bringen könne, reagierte immer gereizter auf dessen Hartnäckigkeit und griff zu immer schärferen Drohungen. Doch mit seinem Wüten erreichte er nichts. Dabei hatte er anfangs gedacht, er müsse diesen Untersuchungshäftling nur ein bisschen einschüchtern, und dann ein Tritt in den Arsch und ab …
    Gegen Ende des Monats ließ Melojedow Micha in Ruhe und holte ihn nicht mehr zum Verhör; stattdessen konzentrierten sich die Ermittler auf die tatarischen Beschuldigten. Einer von ihnen sagte aus, dass Micha bei der Formulierung von Briefen geholfen habe.
    Aber davon wusste Micha nichts. Er saß nun in einer Zelle mit zwei anderen Männern. Einer davon war vollkommen verrückt, er murmelte ständig vor sich hin, wohl Gebete oder Beschimpfungen, der andere war ein ehemaliger Versorgungsoffizier, der gestohlen hatte. Eine Gesellschaft, die nicht zum Reden animierte.
    Dann wurde er in eine andere Zelle verlegt, zu einem Tataren, der wegen der Krimtataren-Bewegung inhaftiert war und erklärte, er sei ein Freund von Michas Bekannten Ravil und Mussa. Erst am dritten Tag, als der Tatare wieder aus der Zelle genommen wurde, begriff Micha, dass er ein Spitzel war. Nun beschloss er noch entschiedener, beim Verhör kein Wort mehr zu sagen. Nach einer Weile holte Melojedow ihn erneut, und nun schwieg Micha tatsächlich wie ein Taubstummer.
    Mitte Februar bekam er die Anklage vorgelegt, und eine Anwältin wurde zu ihm gelassen. Keine staatliche Pflichtanwältin, dafür hatte Michas Schwiegervater gesorgt. Sie hieß Dina Arkadjewna – das erste intelligente und schöne Gesicht seit langem. Sie nahm eine Tafel Schokolade aus ihrer Jacketttasche und sagte:
    »Aljona lässt Sie grüßen. Und noch eine große Freude: Aljona ist schwanger. Es geht ihr gut. Und nun lassen Sie uns überlegen, was wir tun können, damit Sie zur Geburt des Kindes zu Hause sind … Die Schokolade essen Sie bitte gleich, ich darf Ihnen nämlich nichts übergeben.«
    Sie gehörte zu den »glorreichen fünf« Anwälten, die politische Fälle übernahmen. Es war ihr dritter derartiger Prozess, und diesmal tat sie etwas, wofür sie anschließend aus der Moskauer Anwaltskammer ausgeschlossen wurde. Sie besaß die Kühnheit, nach dem Plädoyer des Staatsanwalts, der die Anwendung von Paragraph 190, Teil 1 verlangte, in ihrem Plädoyer nicht um eine Minderung des Strafmaßes zu bitten, sondern bestand darauf, dass kein Straftatbestand vorliege. Das heißt, sie

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