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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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diesem Geschäft Dilettanten, und die sind Profis. Sie haben ihre erprobten Methoden, und sie wissen, wen sie wie kriegen können. Am besten gar nichts sagen. Aber ich hab gehört, das soll am schwersten sein. Die bringen selbst Taubstumme zum Reden.«
    Bei dem Wort »Taubstumme« durchfuhr es Micha heiß. Es war Januar. Drei Jahre lang hatte er diese beste Zeit des Winters bei den Internatskindern verbracht, bei seinen Taubstummen. Sie waren auf Skiern durch das Internatstor gelaufen, hundert Meter bis zum Wald, die Skispur war über Nacht zugeweht, meist ging er voran, dann die Kinder und ganz hinten Gleb Iwanowitsch. Wie lange hatte er die Kinder nicht besucht! Ein Jahr? Zwei Jahre? Er verspürte das Bedürfnis, sie zu sehen. Sofort! Unwillkürlich formte er mit den Händen das Wort: sofort.
    Ilja sagte er davon kein Wort. Bis Montag waren es noch zwei Tage, und er beschloss, am Sonntag früh aufzustehen, ins Internat zu fahren und den Tag mit den Kindern zu verbringen. Schließlich durften die Eltern sie ja auch besuchen. Und er hatte drei Jahre mit ihnen gearbeitet … Wer würde ihm den Besuch verwehren?
    Micha wurde auf dem Jaroslawler Bahnhof verhaftet, als er in den Zug steigen wollte. Er war mit einem Bein bereits im Waggon, aber die beiden Männer packten ihn so geschickt, dass er erst dachte, er wäre gestolpert und abgerutscht.
    »Ruhig, ganz ruhig«, knurrte ein Mann mit Kaninchenfellmütze.
    »Ganz ruhig, das ist besser für dich«, bestätigte der andere, mit einer Nutriamütze.
    Micha hatte dummerweise Schnupfen, er wollte in die Tasche greifen, nach dem Taschentuch, und zuckte zusammen. Von einem heftigen Schmerz im Handgelenk.
    Da erst wurde ihm bewusst, was los war: Sie hatten nicht abgewartet, bis er zu ihnen kam, sie nahmen ihn vorher fest. Also hatten sie ihn überwacht. Hatten Angst, er würde abhauen …
    Er schniefte.
    »Lassen Sie mich doch wenigstens den Rotz abwischen.« Er lachte.
    »Wir nehmen dich auch so«, knurrte wieder der mit der Kaninchenfellmütze.
    »Was wollt ihr denn mit Rotznasen?«
    Micha überkam plötzlich eine vollkommene Ruhe und eine gewisse Kälte: Ich bin verhaftet.
    Die ersten Tage waren am schlimmsten. Er konzentrierte sich darauf, sich genau an Iljas Empfehlung zu halten. Am dritten Tag konfrontierten sie ihn mit der Anschuldigung, und da wusste er, dass die Falle zugeschnappt war und sie ihn nicht mehr rauslassen würden. Als er das begriffen hatte, erfasste ihn Verzweiflung: Jetzt dachte er nur noch an Aljona, und ein gewaltiges Schuldgefühl, das er seit seiner Kindheit kannte, ergriff von ihm Besitz. Er wusste nichts von ihr, hatte keinerlei Kontakt zu seinem früheren Leben, und das erste vertraute Gesicht, das er in der zweiten Woche zu sehen bekam, war das blasse, eingefallene Gesicht von Edik Tolmatschow.
    Sie hatten ihre Strategie nicht abgesprochen, aber ihr Verhalten passte zusammen. Edik bestritt Michas Mitwirkung an der Zeitschrift, Micha verweigerte überhaupt jede Aussage. Das einzige Indiz gegen Micha war das Blatt Papier aus dem Doktor Shiwago , das heißt, Mussas Notiz mit der Anrede Rotkopf!
    Wie sich herausstellte, genügte das. Im Fall der ohne Genehmigung der Zensurbehörde herausgegebenen Zeitschrift »Gamajun« gab es außer Edik noch zwei weitere Beschuldigte, die Micha tatsächlich nicht kannte. Edik hatte zwar einige Fehler gemacht, die Grundregeln der Konspiration aber eingehalten – nicht alle Beteiligten kannten einander.
    Ermittlungen und Prozessvorbereitung dauerten etwas über drei Monate. Während dieser ganzen Zeit saß Micha in der KGB-Untersuchungshaft im Gefängnis Lefortowo, dem geschlossensten und geheimnisvollsten Ort, in einer geweißten Einzelzelle mit einem gegen das Licht und die Außenwelt abgeschirmten Fenster. Jeden Tag wurde er nach dem metallischen Klopfen der Aufseher durch lange, verworrene Flure geführt, über schmale Treppen, auf denen keine zwei Personen aneinander vorbeikamen. Zweimal wurde er dabei, als ein Häftling in die andere Richtung geführt wurde, in eine seitliche Nische gestoßen, dann ging es erneut hoch und runter, durch verschlungene Flure wie in einem Albtraum, zum Büro des Untersuchungsführers. Die Vernehmer wechselten nun nicht mehr, es war nur noch einer: ein schwerer, düsterer Mann, der ihre mehrstündige Unterhaltung mit den Worten begann:
    »Wollen wir den Stummen spielen, oder was?«
    Er hatte für keinen Groschen Phantasie, jedes Mal wiederholte er mit seiner leisen, heiseren

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