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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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bewunderte, bemerkte hin und wieder ein wenig verständnislos:
    »Sanja, wir leben hier. Es ist schließlich unser Land. Du benimmst dich wirklich wie ein Ausländer.«
    An einem frühen Januarmorgen 1969 kam Aljona völlig aufgelöst zu ihnen gelaufen und erzählte, dass Micha verhaftet sei. Das war Sanjas erste persönliche Berührung mit der Politik. Er war erschüttert und bedrückt. Micha hatte ihm seine Zeitschrift gezeigt. Ganz interessant. Aber Sanja hätte nie gedacht, dass ein selbstgedrucktes Bändchen auf dünnem Papier, das zur Hälfte aus Nachrichten bestand, die man normalerweise aus westlichen Radiosendern erfuhr, und zur Hälfte aus Gedichten – ob gute oder schlechte, jedenfalls waren es lediglich Gedichte –, dass ein solches Bändchen jemanden ins Gefängnis bringen könnte. Keine so populäre Zeitschrift wie seinerzeit »Kolokol«, nein. Ein kleines Privatblatt. Allerdings wusste Sanja nicht alles, was Micha tat. Von Michas Engagement für die Tataren hatte er keine Ahnung.
    Ilja war bestens informiert über den Verlauf der Ermittlungen und des Prozesses gegen Edik Tolmatschow, denn er wurde mehrfach vom KGB vorgeladen. Zu Micha stellte man ihm keine einzige Frage, und das wunderte ihn etwas. Noch verwunderter war er, als Micha drei Monate nach Edik verhaftet wurde.
    Aljona bekam gleich nach Michas Verhaftung eine Angina und erkor umgehend Sanja zu ihrer »Freundin«, und so fiel es ihm zu, sich um Aljona zu kümmern. Für Ilja hatte Aljona seit langem nicht viel übrig, mit ihm mochte sie nichts zu tun haben.
    Den Kontakt zu ihrem Vater hatte sie fast völlig abgebrochen – sie hegte einen üblen Verdacht gegen ihn, eines Tages rutschte ihr sogar heraus, dass der Vater an ihrer aller Unglück schuld sei. Ihrer Mutter ging sie aus dem Weg, als wollte sie sie bestrafen. In der ersten Zeit weinte Aljona viel und wollte niemanden sehen außer Sanja.
    Sanja erfuhr auch als erster von ihrer Schwangerschaft, begleitete sie zum Frauenarzt, der bei ihr den Eingriff vornehmen sollte, dem sich sowjetische Frauen recht oft unterzogen, und redete ihr auf halbem Weg zum Arzt die Abtreibung aus. Aljona war oft sauer auf Sanja, warf ihn raus, machte ihm Szenen, doch er ertrug alles geduldig. Den ganzen Winter über verließ Aljona kaum das Haus – mal war sie richtig krank, mal fühlte sie sich einfach nicht gut.
    »Zänkisches, dummes Weib!«, beschimpfte Sanja Aljona, konnte sich ihrem launischen Charme jedoch bis zu einer gewissen Grenze nicht entziehen.
    Ilja brachte Sanja regelmäßig Geld, das er Aljona übergeben sollte. Aljona lehnte das Geld nicht ab, brauchte es aber nicht besonders dringend – Pakete für Micha packte Sanjas Großmutter, und Ilja leitete sie weiter. Die gesamte Schwangerschaft verbrachte Aljona entweder liegend oder mit dem Zeichnen ihrer bizarren Ornamente. In den letzten Monaten zeichnete sie liegend.
    Zu gegebener Stunde brachte Sanja sie in die Entbindungsklinik, dann holte er sie und ihre Tochter ab. Mit einem Strauß Nelken spielte er für die Krankenschwestern den Ehemann und Vater. Diese Rolle blieb an ihm haften: Er begleitete Aljona und ihre Tochter zur Säuglingsberatung, badete und fütterte das Baby … Ihm gefiel diese intime Fürsorge für das Kind, doch zugleich fürchtete er um seine Unversehrtheit. Während Michas gesamter Haftzeit versuchte Aljona halb unbewusst, Sanja zu verführen. Mal ging er in volle Deckung wie ein Boxer, mal ließ er die weiblichen Signale an sich vorbeirauschen wie Dampf oder Luft, mal tauchte er flink ab wie ein Fisch. Wiederholt machte Aljona ihm hysterische Szenen, war beleidigt, warf ihn sogar einige Male raus, bekam dann aber Sehnsucht und rief ihn an, oder er kam selbst ohne vorherigen Anruf vorbei, mit einem Spielzeug für die Kleine oder einem Eclair, denn das war etwas, das Aljona aß. In den drei Jahren ohne Micha aß sie nämlich sehr wenig; ein Stück Brot oder etwas Gebäck zum Tee, aber weder Fleisch noch Käse oder Suppe brachte sie herunter. Seltsam, aber je ausgezehrter und dünner sie wurde, desto schöner und durchgeistigter wirkte sie. Sanja spürte das und fürchtete den Reiz, der von dieser Kränklichkeit ausging. Sanja brachte Aljona auch zu der Begegnung mit Micha vor dessen Abtransport ins Lager. Und er war der Einzige, der Micha lange Briefe schrieb. Aljona schrieb kurze Briefe, sehr schöne, manchmal sogar mit kleinen Zeichnungen. Einmal im Monat antwortete Micha mit einem einzigen Brief an alle, mit

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