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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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erklärte ihren Mandanten für unschuldig.
    Aljona, die im Gesicht ab- und am Leib zugenommen hatte, saß während der Verhandlung in der letzten Reihe des kleinen, gedrängt vollen Saals, rechts von ihr ihre Mutter Valentina, links Igor Tschetwerikow, ein Schulfreund von Micha, allerdings kein enger. Ilja und Sanja waren wie viele andere nicht hereingelassen worden, sie standen draußen vor der Tür.
    Marlen, der ebenfalls auf den Hof des Gerichts gekommen war, brüllte Ilja mit wutverzerrtem Gesicht ins Ohr:
    »Er ist einfach verrückt! Das geht über meinen Verstand! Was gehen ihn die Tataren an! Die Krim! Er sollte sich um sich selber kümmern! Als Jude ins Gefängnis zu gehen für die Rückkehr der Tataren auf die Krim! Dann lieber für die eigene Rückkehr nach Israel!«
    Micha bekam drei Jahre Freiheitsentzug in einem allgemeinen Straflager, nach der Urteilsverkündung hatte er als Verurteilter das letzte Wort. Er redete besser als Richter, Staatsanwalt und Verteidigerin zusammen. Mit reiner, ziemlich hoher Stimme, ruhig und sicher, sprach er von der letztendlichen Gerechtigkeit des Lebens, von denen, die sich eines Tages schämen würden, und von den Enkeln der heute Lebenden, die die Grausamkeit und Sinnlosigkeit dieses Vorgangs kaum verstehen würden. Was für einen glänzenden Literaturlehrer hatten die Schüler mit ihm verloren!
    Nach der Verhandlung nahmen Aljonas Eltern ihre Tochter mit zu sich. Sie verbrachte zwei Tage bei ihnen, zerstritt sich mit ihrem Vater und kehrte in das Zimmer auf den Tschistoprudny-Boulevard zurück.
    Sanja, der gleich an dem Tag, als er von Michas Verhaftung erfahren hatte, bei Aljona aufgetaucht war, besuchte sie nun täglich. Die Jahre der Entfremdung zwischen ihm und Micha waren wie ausradiert. Ihre Freundschaft war nach wie vor frisch und lebendig, sie musste nicht durch häufige Telefonate, gegenseitige Berichte und gemeinsames Biertrinken genährt werden.
    Eine Woche nach Michas Verhaftung saßen Ilja und Sanja am Abend im Miljutin-Garten auf der Bank mit den beiden fehlenden Latten. Sanja schaute auf seine Schuhspitzen: Sollte er es sagen oder nicht? Eins war so dumm wie das andere, aber zu schweigen wäre ganz und gar verkehrt. Er sagte es, ohne Ilja ins Gesicht zu sehen:
    »Ilja, eigentlich hast ja du Micha ins Gefängnis gebracht.«
    Ilja fuhr auf.
    »Spinnst du oder was? Wie meinst du das?«
    »Du hast ihn verführt. Na, erinnerst du dich: ›wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt …‹?«
    »Nein«, entgegnete Ilja bestimmt. »Wir sind alle erwachsen. Hab ich nicht recht?«
    Aber innerlich war er aufgewühlt: Er hatte Micha tatsächlich mit Edik zusammengebracht und war indirekt verantwortlich für das, was geschehen war. Aber nur indirekt!
    Der rachsüchtige Melojedow tat alles, um eine Begegnung Michas mit seiner Frau vor der Verlegung ins Lager zu verhindern. Nur die Hartnäckigkeit von Michas Schwiegervater, der einen Termin beim stellvertretenden Gefängnisdirektor erwirkt hatte, durchkreuzte die Intrige des Untersuchungsführers.
    Am Tag vor dem Abtransport ins Lager durfte Micha seine Frau noch einmal sehen. Sie war hässlicher geworden, was bei schwangeren Frauen häufig geschieht, angeblich vor allem, wenn sie ein Mädchen erwarten. Für Micha war sie schön wie ein Engel, aber er konnte ihr nichts von all dem sagen, was ihn bewegte – wieder einmal hatte ihn sein angeborenes und durch die äußeren Umstände seines Lebens immer stärker gewordenes Schuldgefühl gegenüber allen und jedem übermannt. Das Einzige, was er ihr sagen konnte, war irgendetwas Dummes im Sinne von Dostojewski: »Allen gegenüber an allem schuld …«
    Mit diesem Gefühl ging er auf den Transport: schuld, an allem schuld … Gegenüber Aljona, weil er sie allein ließ, gegenüber seinen Freunden, weil er nichts hatte tun können, um die Dinge zum Besseren zu wenden. Gegenüber der ganzen Welt, der er etwas schuldig geblieben war …
    Es ist ein unbegreifliches, eigenartiges Gesetz: Zu Schuldgefühlen neigen immer die Unschuldigsten.

In der vordersten Reihe
    Vor dem Hintergrund der großen musikalischen Ideen, die Sanja beschäftigten, war es vollkommen natürlich, dass die innenpolitischen Ereignisse, große wie kleine, gänzlich an ihm vorbeigingen. Sie betrafen ihn nicht, ebenso wenig wie Revolutionen in Lateinamerika, eine Dürre in Afrika oder ein Tsunami in Japan. Selbst seine Großmutter Anna Alexandrowna, die ihren Enkel eigentlich

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