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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Sanja unterstellte, genierte sie sich vor Micha und schrieb ihm in den drei Jahren keinen einzigen Brief, schickte ihm nur über Ilja Lebensmittel und Grüße. Dafür wusste sie genau, was man ins Lager schicken musste, sie buk sogar einen speziellen Kuchen, den sie mit Butter und Brühwürfeln füllte und dann sorgfältig in die Verpackung des Fertigkuchens Priwet 16) hüllte, denn Hausgemachtes wurde nicht angenommen. Dieser falsche »Gruß« enthielt eine Unmenge Kalorien. Hin und wieder gab sie Sanja Geld für Aljona.
    16) russ. »Gruß«. Anm. d. Ü.
    Sie erinnerte sich sehr gut, dass sie Micha seinerzeit sanft von dieser Ehe abgeraten hatte. Und: Sie hatte als Einzige Angst vor Michas Rückkehr – vor einem Skandal, einer Entlarvung, vor etwas Anstößigem. Nein, mehr noch: vor einer Katastrophe. Was wusste, was ahnte sie?
    Micha verbot sich, die Tage bis zur Entlassung zu zählen. Aber er konnte nicht anders. Je weniger es wurden, desto größer wurde seine Befürchtung, sie könnten ihn nicht freilassen. Auch seine Freunde zählten die Tage.
    Es war natürlich töricht von ihnen anzunehmen, dass Micha nach exakt drei Jahren entlassen werden würde, noch dazu Punkt Mitternacht, bei Anbruch des Entlassungstages. Sie wussten bereits, dass er nach Moskau überführt worden war und sich im Gefängnis Lefortowo befand. Sie vermuteten nicht zu Unrecht einen Zusammenhang mit der Verhaftung von Aljonas Vater, der ebenfalls in Lefortowo saß.
    In der Nacht, kurz nach elf, standen sie vor dem Gefängnis Lefortowo: Ilja, Sanja und Viktor Juljewitsch. In Iljas Rucksack lagen eine alte Jacke und neue Jeans. Auch Schuhe hatte er gekauft. Sie waren zwar eine Nummer zu groß für Micha, aber dafür sehr schön.
    Ausgänge, aus denen Micha kommen konnte, gab es drei: das Haupttor, den Ausgang des Untersuchungsgefängnisses und den Diensteingang. Die Freunde behielten diese Türen die ganze Nacht und den folgenden Morgen im Blick, bis zwölf Uhr mittags. Dann gingen sie sich erkundigen und erfuhren von der uniformierten Frau am Auskunftsschalter, dass Melamid bereits draußen sei.
    Sie rannten los und riefen bei Micha zu Hause an. Aljona nahm ab und sagte mit sehr leiser und abwesender Stimme:
    »Er ist zu Hause. Kommt her.«
    Wie sich herausstellte, war er um acht Uhr morgens durch das Tor des Untersuchungsgefängnisses entlassen worden, die Freunde hatten ihn verpasst. Sie nahmen ein Taxi und stürmten zwanzig Minuten später in Michas Haus. Der Fahrstuhl war außer Betrieb. Sanja und Ilja rannten in den fünften Stock hinauf, doch der stark gealterte Viktor Juljewitsch blieb keuchend zwei Etagen zurück. Sie warteten auf ihren Lehrer, klingelten, und Micha selbst öffnete ihnen. Genauer, der abgemagerte farblose Schatten Michas. Was Ilja auch umgehend sagte, um einem möglichen Gefühlsausbruch vorzubeugen:
    »Na, du bist ja ein richtiges Gespenst!«
    Micha lachte und wurde sofort er selbst.
    »Ich bin kein Gespenst! Ich bin das Skelett eines Gespenstes!«
    Da hob Viktor Juljewitsch die Hand, wie sie es aus ihrer Schulzeit kannten, und rezitierte:
    »Und da, wie sie’s berichtet, in der Zeit
und der Gestalt buchstäblich alles wahr,
kommt das Gespenst.«
    Sofort rückte alles an seinen Platz. Sie klopften einander auf die Schulter, schüttelten Micha und polterten alle zusammen ins Zimmer, das ungeachtet der einstigen Ideale von Strenge und Askese mit Kram zugewachsen war – einem Tisch, einem Kinderbett und sogar einem Vorhang, der die Schlafecke des Kindes abteilte – und sich überhaupt wieder auf den Tante-Genja-Zustand zu entwickelte.
    Maja, gerade erst zum Mittagsschlaf gebettet, wachte auf und schrie. Aljona ging in ihre Ecke, um sie zu beruhigen, dann kam sie mit ihr heraus zu den Gästen, und die Kleine streckte die Arme nach Sanja aus, dem einzigen Vertrauten unter den Anwesenden. Sanja nahm sie auf den Arm, schüttelte sie sanft, und sie schlang ihm die Arme um den Hals.
    »Was hast du mir mitgebracht?«, fragte sie mit schlafheiserer Stimme.
    Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, und sie lächelte.
    »Wo denn?«
    Sanja zog eine bunte Glaskugel aus der Hosentasche und rollte sie auf seiner Hand hin und her. Wie ein Äffchen langte die Kleine danach.
    Micha betrachtete das eng umschlungene Pärchen eifersüchtig. Seine Tochter hatte den schüchternen Papa nicht angenommen. Er sah sie zum ersten Mal im Leben und konnte nicht fassen, dass dieses kleine Geschöpf, ein lebendiger Mensch mit Locken, Augen und beweglichen

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