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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Fingerchen, von ihm abstammte, von seiner großen Liebe zu Aljona, und er begriff nicht recht, wie diese beiden wichtigsten Dinge in seinem Leben miteinander zusammenhingen.
    Er hatte bereits gebadet. Sich den dreijährigen Schmutz vom Leib gewaschen. Gern hätte er sich auch innerlich gesäubert, die Nase, die Tracheen und die Lungen von der Gefängnisluft gereinigt, den Mund, die Speiseröhre, den Magen und das Gedärm von dem scheußlichen Essen und Wasser …
    Sieben Jahre! Dafür bräuchte man sieben Jahre – in dieser Zeit erneuern sich sämtliche Zellen im menschlichen Körper. Wer hat das gesagt? Und wie viele Jahre braucht die Seele, um sich vom Gefängnisschmutz zu reinigen? Ach, könnte man doch sein Gehirn in flüssigem Stickstoff, in Chlor, in Alkalilösung waschen, um das Gedächtnis von all dem in den drei Jahren Erlebten zu befreien! Selbst wenn damit zugleich alles andere ausgewaschen würde, wenn er alles vergessen sollte, was er liebte, wusste, was er verehrte – wenn nur diese drei Jahre aus seiner Erinnerung verschwänden.
    Die Freunde blieben nicht lange, nicht einmal eine Stunde, dann gingen sie. Nun waren sie zu dritt, die kleine Familie. Sie mussten über vieles reden. Das Mädchen schmiegte sich an die Mutter und stieß den Vater weg. Micha verzog das Gesicht. Sie hatte Angst vor ihm, wandte sich ab.
    Was für ein hoher Preis. Das Kind akzeptiert mich nicht, wird mich nie akzeptieren. Micha hatte nie ein Gefühl für Zwischentöne gehabt und litt nun, weil er sich abgelehnt fühlte.
    »Komm, wir gehen spazieren. Willst du auf die Schaukel, Majetschka?«
    »Ja. Mit dir.« Sie griff nach der Hand der Mutter.
    »Papa nehmen wir auch mit.«
    Zu dritt gingen sie hinaus.
    Maja setzte sich auf die Schaukel, und Aljona stieß sie leicht an.
    »Fünf Wochen vor dem Entlassungstermin kam ich auf Transport, da war mir klar, dass sie eine neue Anklage zimmern. Wie sich herausstellte, ging es um den Fall Tschernopjatow und Kustschenko«, setzte Micha seinen unterbrochenen Bericht fort. »Eine Gegenüberstellung haben sie mir lange nicht gewährt, aber sie gaben mir die Aussagen zum Lesen. Die waren schrecklich, ich glaubte kein Wort, ich dachte, sie hätten mir eine Fälschung aus den Angaben der Spitzel untergejubelt. Über dreißig Namen standen da drin, darunter auch Edik Tolmatschow. Aber da ging es im Wesentlichen nicht um ›Gamajun‹, sondern um die ›Chronik‹, um die Menschenrechtsfälle. Die Protokolle enthielten alles Mögliche: aufrichtige Geständnisse, Reue …«
    Aljona nickte nur. »Das weiß ich alles.«
    »Ich habe es bis zuletzt nicht geglaubt. Eigentlich kann ich es auch jetzt nicht glauben. Aber dann gab es eine Gegenüberstellung. Es stimmt alles. Was sie mit ihnen gemacht haben, weiß ich nicht. Vielleicht haben sie die Aussagen aus ihnen rausgeprügelt. Ich habe alles abgestritten. Bis auf die Tatsache, dass Sergej Borissowitsch dein Vater und mein Schwiegervater ist. Ich war sicher, sie würden die Anklage auch auf mich ausweiten. Bis zuletzt habe ich nicht geglaubt, dass sie mich rauslassen würden. Und ich glaube es auch jetzt nicht.«
    Aljona sah nicht zu ihm auf, ihr Gesicht wirkte, als nähme sie ihn gar nicht wahr. Micha legte seine Hand auf ihre.
    »Mir platzt einfach der Kopf davon: Dein Vater kann das alles nicht gesagt haben, ausgeschlossen. Aber ich habe es mit eigenen Ohren gehört. Du musst nicht denken, dass ich ihn nicht mehr liebe, Aljona. Er tut mir wahnsinnig leid.«
    »Ich weiß nicht, Micha, ich glaube, mir tut er nicht leid. Ich bin damit aufgewachsen, dass mein Vater ein Held ist.« Aljona schaute noch immer nicht auf, sie blickte nur auf die Schaukel, den hin und her huschenden Schatten des Sitzes, auf dem ihre Tochter saß.
    »Du schaukelst nicht richtig, Mama«, sagte die Kleine streng.
    Micha griff nach der Schaukelstange.
    »Nein, du nicht!«, sagte sie noch strenger.
    Gegen Abend kamen Shenja Tolmatschowa und eine Bekannte von Aljona aus dem Institut vorbei und saßen lange bei ihnen. Kurz nach neun warfen sie die Gäste raus, mit der Begründung, sie müssten das Kind baden.
    Im Bad stellten sie die Babywanne auf einen Hocker, füllten sie mit warmem Wasser und setzten Maja hinein. Eifrig wusch sie eine kleine Puppe und einen Gummihund, dann planschte sie herum. Micha schaute von der Tür aus zu und hielt den Atem an vor ungekannter neuer Liebe zu dem nassen Kleinkind mit den an der Stirn klebenden dunklen Haarsträhnen.
    »Halt mal das

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