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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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persönlichen Worten an jeden seiner Freunde. Wenn ein Brief von ihm eintraf, versammelten sie sich alle bei Aljona. Sie saß dann meist schläfrig im Sessel, die Kleine auf dem Arm, und Sanja kochte Tee und reichte Gebäck. Das wirkte ein wenig zweideutig, als sei er Michas Stellvertreter, und führte zu dem Gerücht, Aljona habe ein Verhältnis mit dem Freund ihres inhaftierten Mannes. Ein Verhältnis hatten sie nicht. Doch eine gewisse Spannung lag in der Luft.
    Sanja wartete womöglich mehr als Aljona auf Michas Rückkehr. Er spürte ihre psychische Labilität und befürchtete, ihre Kräfte könnten nicht reichen, bis Micha heimkehrte. Oder seine eigene antrainierte Widerstandskraft könnte brechen. Aljona war wohl die anziehendste aller Frauen, die er kannte: Das nahezu Körperlose an ihr, die langsame, bedächtige Drehung von Hals und Kopf, unter die sie mit einer Aufwärtsbewegung des Kinns einen Punkt setzte. Oder wie sie langsam die Hände hob und sich an die Schläfen griff, die Fingerspitzen im Haaransatz vergrub, dabei die Augen ein wenig zukniff, und ihr Kopf auf den Fingern zu ruhen, gleichsam in der Luft zu hängen schien.
    Michas Familie kostete Sanja viel Zeit und drängte seine musikalischen Studien in den Hintergrund. Er litt, konnte sich nicht auf seine Gedanken konzentrieren, war ganz von Haushaltsdingen in Anspruch genommen und musste nach Zeiten und Orten suchen, um den aufgezwungenen familiären Pflichten zu entrinnen und sich mit seiner geliebten Musik zurückziehen zu können.
    Er unterrichtete am Konservatorium, aber relativ wenig – nie mehr als zwölf Stunden die Woche.
    Dank Aljona war er nun kein Ausländer im eigenen Land mehr. Zumindest wusste er jetzt, wo sich die Milchküche befand, und kannte sämtliche umliegenden Apotheken und Polikliniken. Sein Morgen begann mit einem Lauf zur Milchküche, sein Abend endete mit dem täglichen Besuch bei Aljona. Er wusste, dass er sie dazu zwingen musste, irgendetwas zu essen – ohne Sanja setzte sie sich gar nicht erst an den Tisch. Den größten Teil des Tages verbrachte sie mit ihrer Tochter im Bett. Als die kleine Maja ein wenig größer war, ging sie mit ihr hinaus auf den Hof – an die frische Luft. Vor Straßen, Menschenansammlungen und Lärm fürchtete sie sich, das Haus verließ sie nur in Begleitung von Sanja.
    Spätabends griff Sanja aus dem Stapel neben seiner Liege eine Partitur heraus. Legte sich hin. Blätterte in dem Band. Zum Beispiel in Mozarts Klavierkonzert Nr. 23. Ein Wunder und eine Herrlichkeit. Zu diesem Konzert hatte ihm seine Klavierlehrerin Jewgenija Danilowna einmal eine Geschichte erzählt: Stalin hatte dieses Konzert im Radio gehört, gespielt von Maria Judina, und verlangte nach der Schallplattenaufnahme. Es gab keine. Noch in derselben Nacht wurden die Pianistin, ein Dutzend Musiker und ein Dirigent aus dem Bett geholt und ins Schallplattenstudio gebracht, das Konzert wurde eingespielt, und am Morgen war das erste und einzige Exemplar fertig. Stalin belohnte die Pianistin großzügig. Es heißt, er habe ihr einen Umschlag mit zwanzigtausend Rubel geschickt. Sie antwortete ihm mit einem Brief: Das Geld habe sie der Kirche gespendet, und für ihn werde sie beten, dass Gott ihm seine bösen Taten vergeben möge. Stalin verzieh ihr. Er sagte: Sie ist eine Verrückte …
    Sanja las Mozart, und eine Welle von Glück erfasste ihn. Nicht nur Stalin war davon ergriffen gewesen … Er lächelte. Schlug die Partitur zu. Löschte das Licht. Mozart selbst sprach zu ihm. Was konnte er sich mehr wünschen? Was für einen Gesprächspartner, Freund, Beichtvater? Und Aljona – das würde er schließlich auch überstehen.
    So traurig es war – das Verhältnis zwischen Sanja und seiner Großmutter trübte sich. Sie stellte keine direkten Fragen, und Sanja hielt es nicht für nötig, Erklärungen abzugeben. Anna Alexandrowna war sich absolut sicher, dass Aljona den Jungen in ein anstößiges Verhältnis gestürzt hatte, und war enttäuscht von ihrem vergötterten Enkel. Andererseits sah sie, welche Last ihr verwöhnter Sanja auf sich nahm, und war auch ein wenig stolz auf ihn. Sie litt, weil sie sah, dass Sanja immer tiefer in der Fürsorge für Michas Familie versank, und war schrecklich eifersüchtig auf die unglückliche, ihr so wenig sympathische Aljona. Und absurderweise empfand sie stellvertretend für Micha Eifersucht, den sie für einen betrogenen Ehemann hielt.
    Weil sie sich mitschuldig fühlte an den Sünden, die sie

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