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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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zurückkehrte. Er verbrachte die Abende wieder in Konzerten und im Wohnheim des Konservatoriums, wo er viele Freunde hatte, und die Sprengladung, die während Michas Lagerhaft hätte explodieren können, schien entschärft.
    Micha traf Sanja bei seinen Besuchen ein paar Mal zu Hause an, und zwischen ihnen entstand erneut jene Aura der Vertrautheit aus ihrer Kindheit und Jugend. Alles am anderen war verständlich, und was man nicht gleich verstand, weckte Interesse und Sympathie.
    Außerdem spürte Micha voller Freude, dass noch etwas geblieben war wie früher: Anna Alexandrowna war die Erwachsene, und er war nach wie vor ein Kind. Und wie ein Kind, das vom Spaziergang zurückkehrt, brachte er Anna Alexandrowna jedes Mal etwas mit – einen Kiefernzweig mit Zapfen, eine lustige Zeichnung von Maja.
    Diesmal kam er aus Tarassowka, wo er Artur Koroljow besucht hatte, seinen alten Buchbinder-Freund. Sie hatten Wodka getrunken, aber nicht lange zusammengesessen. Micha kehrte noch bei Tage nach Moskau zurück und beschloss, Anna Alexandrowna zu besuchen. Weil er nichts anderes gefunden hatte, kaufte er bei Zigeunern auf dem Bahnsteig ein paar Lutscher. Er überreichte sie seiner alten Freundin wie einen Blumenstrauß, ein Bündel feuerroter Hähne am Stiel. Sie stellte sie in ein Glas, sie leuchteten festlich, und plötzlich entdeckte Micha, dass die ganze Wohnung irgendwie alt und abgenutzt wirkte.
    Herz des Hauses. Frohes Herz du. Doch warum?
Schattenhaus und Schattengarten bleiben stumm.
Alter Garten, dürre Espen – furchtsam, bleich!
Hausruine … Schlamm, nur Schlamm, verfaulter Teich!
Finstrer Ort! … ein Brudermord … Verrat und Leid!
Staub und Moder … Gramgebeugt … vor der Zeit …
Wessen Heim? Wessen Herd? Wessen Sein? Wem gehört
Diese tote Höhle – ofenlos, zerstört …
    Anna Alexandrowna schenkte dünnen Tee ein – ihre Hände waren zerbrechlich wie Porzellan.
    »Annenski … Das ist ein ziemlich trauriges Gedicht … Sieh nur, wir trinken heute Tee wie die Kaufleute – mit Zucker und Lutschbonbons. Sanja kommt bald. Er wollte unterwegs einkaufen. Bleibst du solange?«
    Sie stand auf und zog aus einem Haufen eine bauchige Zuckerdose mit Zange hervor – darin war Zucker in groben Würfeln.
    Anna Alexandrowna und Micha saßen vor ihren Teetassen. Kein simples Gebäck, keine Kringel. Anna Alexandrowna ging schon die zweite Woche wegen einer ungewohnten Müdigkeit, die sie plötzlich überkommen hatte, nicht aus dem Haus. Krankschreiben ließ sie sich nicht, eine andere Lehrerin, die an der Akademie eine halbe Stelle hatte, übernahm ihre Stunden. Doch inzwischen war eine Woche vergangen, sie fühlte sich noch nicht besser und klagte Micha, sie sei schrecklich faul geworden: Sie gehe nicht zur Arbeit und habe den Haushalt schleifenlassen, es sei rein gar nichts zu essen im Haus.
    »Morgen raffe ich meine alten Knochen auf und gehe raus. Aber Sanja ist auch gut: Nicht einmal Brot hat er gekauft … Von Nadeshda will ich überhaupt nicht reden. Ach, du weißt ja das Neueste von uns noch gar nicht! Meine Tochter hat seit über einem Jahr eine Affäre, sie übernachtet nicht zu Hause, stell dir das vor, unerhört!« Sie lachte, als ginge es um ein sittenloses fünfzehnjähriges Mädchen, und setzte mit gewohnter Offenheit hinzu:
    »Sie will heiraten. Eine Dummheit, eine richtige Dummheit …«
    Sie verzog das Gesicht.
    Es muss ihr sehr schlecht gehen, dachte Micha, der daran gewöhnt war, dass Anna Alexandrowna stets frischen Tee servierte und alten Sud, selbst wenn sie ihn erst ein paar Stunden zuvor gekocht hatte, gnadenlos wegschüttete.
    »Und, wie geht es dir?«, erkundigte sich Anna Alexandrowna, und Micha redete von dem, was ihn am meisten schmerzte: Ich habe keine Arbeit, hab schon alle möglichen Stellen abgeklappert. Keiner nimmt mich. Und der Bereichsmilizionär fragt dauernd, wann ich endlich arbeiten gehe …
    Sie hörte aufmerksam zu, wobei sie mechanisch eine Papirossa zerdrückte und mit dem leeren Mundstück auf den Tisch klopfte. Plötzlich ließ sie die Papirossa fallen, lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, schaute auf irgendeinen Punkt hinter Micha und sagte:
    »Micha, mir ist schlecht … schlecht.«
    Sie tat mit offenem Mund und angespannten Lippen noch ein paar krampfartige Atemzüge, ihre Hand glitt über den Tisch und fegte die roten Hähne hinunter. Ihr Blick war so starr und konzentriert auf etwas hinter Micha gerichtet, dass er sich umdrehte. Dort war niemand – im

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