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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Handtuch«, bat Aljona, und er umfing den schmalen Rücken mit dem großen Handtuch. Zum ersten Mal hielt er seine Tochter in den Armen – sie war sehr leicht, aber zugleich von großem Gewicht. Klein, aber riesig, größer als Micha, größer als die ganze Welt. Sie war die ganze Welt.
    Du kleine Welt, auf deine Weise,
so große, blonde, nasse Welt,
das grüne Auge schließt sich leise …
Ta ra ta ra ta ra ta telt.
    Das Kind war eingeschlafen. Micha umarmte seine Frau. Sie verschloss ihm den Mund mit der Hand und sagte:
    »Du hast mir nichts Neues erzählt. Ich weiß das alles schon. Ich habe mit seiner Anwältin gesprochen. Du kennst sie nicht, Natalja Kirillowna. Sie ist großartig. Ich habe sie gebeten, ihm auszurichten, dass ich ihn nie wiedersehen will, niemals.«
    Das Wort »Vater« sprach sie nicht aus. »Er«. Micha schob ihre Hand weg.
    »Du bist ja verrückt, Aljona. Das geht nicht. Er tut mir schrecklich leid …«
    Alles war wie früher – der Hof, die Nachbarn, die fehlende Diele im Flur, die Pappeln auf dem Hof, die alten Randsteine, die früher die Blumenrabatte markierten, die einstige Eisbahn; die Verkäuferinnen beim Bäcker und im Fischladen, der Hausverwalter. Dennoch war es, als seien nicht drei Jahre vergangen, sondern dreißig. Micha hatte ständig das Gefühl, als könnte bei einer unvorsichtigen Bewegung alles klingend zerspringen – das Haus, der Hof, seine Tochter, seine Frau, die ganze Stadt und der April, der in diesem Jahr so warm und freundlich war.
    Sanjas Großmutter Anna Alexandrowna war der erste Mensch, den Micha nach seiner Entlassung besuchte, am zweiten Abend in Freiheit. Ihr erzählte er auch, dass Aljonas Vater angefangen hatte auszusagen und dass er befürchte, Tschernopjatow könne ihn erneut ins Lager bringen.
    Anna Alexandrowna hatte sich auf Michas Besuch vorbereitet und den ganzen Tag in der Küche verbracht.
    »Weißt du, Micha, alle Neuigkeiten auf der Welt sind alt. Mein Mann wurde von seinem eigenen Bruder ins Gefängnis gebracht. Umgekommen sind alle beide. Das Schicksal entscheidet, nicht unser Verhalten, ob gut oder schlecht. Iss, bitte.«
    In den drei Jahren hatte er sich bis zur Unkenntlichkeit verändert: das Gesicht straff von Haut umspannt und dunkel geworden, das Haar schütter, die Augen heller, fast gelb. Und er dachte auch über fast alles anders.
    Anna Alexandrowna hatte sich nicht im Geringsten verändert: das dichte Netz feiner Fältchen, wie von einem Graveur mit dünnem Stift eingeritzt, hatte sich sehr früh über ihr Gesicht gelegt und war darauf erstarrt, ohne sie zu verunstalten. Nun, mit fast achtzig, wirkte sie eher jünger. Und während Micha über ihre seltsamen Worte nachdachte und sie anschaute, wurde ihm bewusst, dass sie eine außerordentlich schöne Frau war. Sogar weit mehr als das. Auch wenn die Jahre ihr Gesicht mit einem Schleier aus Falten überzogen hatten – es war noch immer wunderbar und leuchtend.
    »Anna Alexandrowna, Ihr Zuhause hat mir gefehlt … Wenn Sie wüssten, wie gern ich Sie habe …«
    Sie lachte.
    »Na, auf dieses Geständnis habe ich lange gewartet. Micha, ich habe für dich ›Hecht auf jüdische Art‹ gekocht. So heißt das Rezept im Kochbuch von Molochowez. Ich hab’s irgendwie zusammengeschustert, zum ersten Mal. Probier mal, ist es gelungen?« Sie stellte ihm eine ovale Schüssel mit blassen Fischstücken hin.
    »O ja, das ist es, besonders, wenn man bedenkt, dass ich so etwas Exquisites noch nie gekostet habe!« Nun wusste Micha endgültig, dass er wieder zu Hause war. Er strahlte, lächelte, redete und aß gleichzeitig und vergaß eine Zeitlang den ständig nagenden Schmerz im Bauch.
    Anna Alexandrowna ihrerseits war erleichtert: Vielleicht kam ja alles wieder ins Lot, Micha nahm seinen Platz als Ehemann und Vater in seiner Familie ein und Sanja kam hierher zurück, nach Hause, befreit von der Fürsorge für Aljona – alles würde wieder wie früher, und sämtliche Probleme, echte wie eingebildete, lösten sich ganz von selbst auf.
    In den folgenden zwei Wochen besuchte Micha die Steklows häufig. Mit Aljona schien alles gut zu gehen, und die Tochter war für ihn wie ein vom Himmel gefallenes Wunder. Aber alles andere um ihn herum war schlecht, viel schlechter als vor seiner Verhaftung.
    Doch hier, bei Anna Alexandrowna, fühlte er sich wohl. Sanja war wie früher selten zu Hause, aber seine Abwesenheit war für Anna Alexandrowna beruhigend: Sie bedeutete, dass Sanja allmählich in sein Element

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