Das gruene Zelt
Bücherschrank schimmerten die goldenen Rücken des Lexikons von Brockhaus und Efron.
Micha hob sie hoch und trug sie zur Liege. Sie war leicht, sie hing über seinen Armen wie ein Federbett. Er legte sie hin und schob ihr mehrere Sofakissen unter den Rücken. Sie schaute noch immer konzentriert – an ihm vorbei. Er presste ihr Handgelenk, allerdings an einer Stelle, an der auch bei einem Lebenden kein Puls zu fühlen ist.
»Gleich, gleich … Medizin … Notarzt …«, murmelte Micha, obwohl er bereits ahnte, dass es zu spät war.
Er stürzte zum Telefon – die Steklows hatten als Einzige in der Wohnung einen eigenen Apparat im Zimmer. Er nahm ab und hörte Bruchstücke eines Gesprächs der Nachbarin.
»Ich hab ihr schon so oft gesagt, sie soll besser auf ihn aufpassen. Sie hat immer gelacht, und das hat sie nun davon … Er ist ein solider Mann, das ist ja heutzutage eine Seltenheit …«
Micha rannte in den Flur.
»Bitte! Anna Alexandrowna geht es schlecht! Ich muss den Notarzt anrufen …«
Die Nachbarin Maria Solomonowna, eine Apothekerin mit lippenstiftbeschmierten Goldzähnen, schätzte Anna Alexandrowna sehr.
»Also, ich mach jetzt Schluss. Die Nachbarn müssen dringend telefonieren. Aber richte ihr das aus: Ich hab ihr oft genug gesagt …«
Das Türschloss knirschte. Sanja kam über den Flur. Er hatte eine Tasche dabei. Unterwegs war er im Feinkostladen gewesen und hatte eingekauft, sogar ein Huhn, und nun brachte er seine Einkäufe stolz der Großmutter. Wohl zum ersten Mal …
»Anna Alexandrowna geht es schlecht … Den Notarzt … Ich glaube, sehr schlecht«, murmelte Micha. Sanja stürmte ins Zimmer, Maria Solomonowna watschelte hinterher.
Eine Viertelstunde später, noch bevor der Krankenwagen kam, rief Wassili Innokentiewitsch an. Der tägliche Anruf »Wie geht’s?«, der bei Anna Alexandrowna jedes Mal leichte Gereiztheit auslöste. Er kam sofort. Ihre lebenslange Romanze, die rund sechzig Jahre gewährt hatte – mit Unterbrechungen während Annas Ehen und Liebschaften –, diese Romanze war nun zu Ende. Der Mann, den sie unzählige Male abgewiesen hatte und der in ihren schwersten Zeiten – wenn ihre Ehemänner und Liebhaber eingesperrt und getötet worden waren – immer wieder aufgetaucht war, begrub seine große Liebe diesmal ohne die Hoffnung auf eine erneute Auferstehung.
Gleichzeitig mit Wassili Innokentiewitsch kam Ilja, ein seltener Gast. So waren noch vor dem Eintreffen der Ärzte, die den Tod feststellten, die Menschen um Annas erkaltenden Körper versammelt, die sie am meisten geliebt hatte. Nur ihre Tochter Nadeshda fehlte an diesem Abend – sie übernachtete auf einer Datscha, und dort gab es kein Telefon. Vom Tod ihrer Mutter erfuhr sie erst am nächsten Morgen.
Die Tote wurde in der Nacht fortgebracht, und die erwachsenen Jungen saßen zu dritt beisammen, gleichsam zu einem einzigen Wesen verschmolzen: mit den gleichen Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen, gleichermaßen betroffen, gleichermaßen untröstlich. Ilja öffnete im Beisein von Sanja und Micha sein drittes oder viertes Auge – oder wo immer es sitzt, das Organ für Wärme und Mitgefühl –, und sie atmeten dieselbe Luft, denselben Kummer.
Die Beerdigung war eine sonderbar gemischte Veranstaltung. Es hatte sich ein Testament gefunden, in dem Anna Alexandrowna genaue Anweisungen erteilte, wo und wie sie begraben werden wollte. Die Totenmesse sollte in der Peter-und-Paul-Kirche am Jausa-Tor-Platz stattfinden.
Es waren viele Menschen gekommen. Sie lenkten Sanja von seiner Großmutter ab, die wie eine weiße Insel inmitten schwarzer Menschenwogen lag.
Neben den Angehörigen war die Obrigkeit aus der Akademie erschienen – sichtlich verwunderte Uniformierte. Auch einige Schüler waren da. In den letzten Jahren hatte Anna Alexandrowna keine Chinesen mehr unterrichtet, sondern Kubaner und Afrikaner. Ihr Russischunterricht war gut gewesen. Die Schüler hatten einen Kranz aus Tannengrün mit schwarzroten Bändern mitgebracht, und dieser Kranz trieb Sanja Tränen in die Augen.
Am Kopfende des Sargs stand Wassili Innokentiewitsch mit leuchtend grauem Haar und verkniffenem Gesicht. Lisa fehlte – sie war auf Gastspielreise in Deutschland. Ein Dutzend alte Freundinnen – die Klavierlehrerin Jewgenija Danilowna, ein paar Vertraute aus Gymnasiumszeiten, die Musikerwitwe Eleonora Sorachowna mit zwei mondänen weißen Rosen – vermischte sich mit ehemaligen Kollegen aus Annas verschiedenen Lebensabschnitten und mit
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