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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Sanjas Freunden. Ilja war mit Olga gekommen, neben ihnen stand Tamara Brin, die Enkelin einer verstorbenen Freundin von Anna. Tamara hatte ein so ausgeprägt levantinisches Gesicht, dass Sanja sie sofort wiedererkannte – in seiner Kindheit war sie oft bei seinen Geburtstagen dabeigewesen.
    Der blasse Micha stand neben Sanja und benetzte einen Mohairschal, den Anna Alexandrowna ihm vor langer Zeit zum Geburtstag geschenkt hatte, still mit Tränen. Hin und wieder stieß Sanjas Blick unwillig auf einen stämmigen Mann mit buschigen Brauen und breitem Gesicht. Er stand neben Sanjas Mutter und hielt besitzergreifend ihren Arm. Das war ihr Auserwählter, den Sanja jetzt zum ersten Mal sah. Warum hatte sie ihn mitgebracht?
    Sanja beobachtete alles distanziert, als blickte er durch dickes Glas. Das tote Gesicht der Großmutter erschien ihm wie eine kunstvolle Fälschung, ihre Schönheit hatte eine endgültige Form angenommen, und diese vollkommen unnütze Schönheit flößte ihm Misstrauen gegen die eitle und hässliche Welt der Lebenden ein.
    Aus einer Seitentür trat ein Priester, der Gottesdienst begann. Jewgenija Danilowna schob Sanja eine Kerze in die Hand. Die Stimme des Geistlichen verschmolz mit Gesängen, die Sanja nie zuvor gehört hatte. Sie verlangten Aufmerksamkeit, denn sie enthielten etwas Wichtiges, aber schwer Verständliches.
    Der Priester, der wie ein Grieche aussah, befolgte hochkonzentriert und ohne jede Kürzung das Ritual. Das komplette »Totengeleit« dauerte sehr lange. Sanja registrierte, dass die Stimme des Geistlichen wunderbar mit dem Gesang harmonierte, und auch die kleinen Geräusche – das Knistern der Kerzen, das Husten und Schluchzen – passten exakt hinein: eine sehr schöne Instrumentierung. Dann wurden die Kerzen gelöscht, und Sanja glaubte, der Gottesdienst sei zu Ende. Doch der Priester sprach erneut, der Chor setzte wieder ein, und die Laute, die Gerüche und die Lichtreflexe auf den Ikonenrahmen trugen Sanja dorthin, wohin ihn gewöhnlich die Musik trug.
    Dann war die Totenmesse beendet, und der Priester sagte, die Angehörigen könnten nun von der Verstorbenen Abschied nehmen. Alle gerieten in Bewegung, es entstand eine Schlange.
    Anna Alexandrowna hatte Schlangen gehasst. Sie sagte oft, sie habe ihr halbes Leben in Schlangen verbracht – nach Brot, Milch und Kartoffeln, nach Seife, nach Eintrittskarten, nach Briefen –, und sie habe sogar einen besonderen Schutzmechanismus entwickelt: Sie repetiere im Kopf Gedichte. Sie sagte lachend, die Sowjetmacht trainiere ihr Gedächtnis, weil sie ständig dafür sorge, dass man Schlange stehen müsse. Sie hätte wohl nie gedacht, dass sich an ihrem letzten Tag auf Erden an ihrem Sarg eine so lange Schlange bilden würde.
    Anna Alexandrowna hatte verfügt, dass sie im Donskoi-Kloster beigesetzt werden wollte, im Grab ihres Großvaters. Der Klosterfriedhof war längst aufgelassen; sie konnten nur die Urne dort beisetzen, zwei Wochen später.
    Es war eigentlich kein Grab, sondern eine Gruft, doch sie war schon so verfallen, dass die Urne nur darüber beigesetzt werden konnte, neben dem windschiefen Grabstein. Annas Großvater hatte einen adligen, wenn auch nicht sehr berühmten Namen getragen.
    Diesmal waren nur wenige Menschen gekommen. Nur die engsten Angehörigen und Freunde. Wassili Innokentiewitsch stand neben Sanja und wollte ihm die ganze Zeit etwas sagen, fand aber keinen passenden Augenblick. Als alles vorbei war und sie durch das Klostertor hinausgingen, fasste er Sanja unter und sagte sehr leise und sehr deutlich:
    »Sanja! Wir haben Lisa für immer verloren: Sie ist von ihrem Gastspiel nicht zurückgekehrt, sie ist in Österreich geblieben. Sie hat angerufen und gesagt, mit der Zeit würden wir sie verstehen, es sei alles sehr gut, sie sei glücklich, und sie bitte alle um Verzeihung. Und liebe uns sehr. Ich habe ihr gesagt, dass Anjuta gestorben ist, sie hat geweint und gefragt, ob sie dich anrufen dürfe. Ich habe gesagt, ich müsse dich fragen.«
    »O Gott!«, brachte Sanja nur heraus.
    »Sie will einen Dirigenten dort heiraten, sie kennt ihn schon seit ihrem ersten Gastspiel, sie ist mit ihm aufgetreten … Ein alter Mann! Sanja, welch ein schrecklicher Verlust. Die Menschen, die uns am nächsten stehen, verlassen uns. Wir werden Lisa nie wiedersehen. Obwohl, du vielleicht doch. Aber ich nicht.«
    »Basil, das ist sehr traurig. Merkwürdig, alle Frauen wollen heiraten, schau.« Er wies mit den Augen auf seine Mutter, die

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