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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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ein Mann mit platter Persianermütze auf dem dicken Kopf am Arm führte. »Dein Schwiegerenkel ist Österreicher, kein Deutscher?«
    Wassili Innokentiewitsch nickte.
    »Ich mochte den dicken Boba nicht und habe mich sehr gefreut, als sie sich getrennt haben. Wenn ich recht weiß, ist dein neuer Schwiegerenkel ein schöner Mann. Ein eindrucksvolles Gesicht. Ich habe eine Schallplatte, da ist ein Bild von ihm drauf. Was machen die Frauen nur? Sieh ihn dir bloß an, diesen … Hausverwalter … Anjuta wusste Bescheid …« Er schaute zu seiner Mutter und ihrem Auserwählten.
    Micha trat zu ihnen. Er packte Sanjas verunstaltete Hand und beugte sich zu seinem Ohr.
    »Du hast noch deine Mutter, aber ich habe nun niemanden mehr. Anna Alexandrowna war für mich die einzige Verwandtschaft, die ich hatte. Das habe ich erst jetzt begriffen. Sie ist nicht mehr da, und nun stehe ich in der vordersten Reihe.«
    »Was? Was?«, fragte Sanja verständnislos.
    »Es gibt keine Erwachsenen mehr vor mir. Ich bin der Nächste«, erklärte Micha.
    Zwei Wochen nach Anna Alexandrownas Tod zog der stämmige Herr mit der platten Mütze, Sanjas Mutter am Arm, bei ihnen ein. Sein Name war Lastotschkin 17) und passte überhaupt nicht zu ihm. Sie verrückten Möbel, räumten den Wandschirm weg und benutzten Kleider- und Bücherschrank als Raumteiler. Sanja musste ein Stück weichen und sich an eine neue Aufteilung gewöhnen.
    17) von lastotschka – (dt. Schwalbe), im Russischen häufig als Kosename gebraucht. Anm. d. Ü.
    Der Tod seiner Großmutter, der so leicht gekommen war, so rasch und völlig unvorbereitet, wollte sich nicht in sein Leben einfügen. Wenn Sanja morgens erwachte, hörte er die unerträglichen Geräusche eines fremden Lebens und wäre am liebsten noch einmal eingeschlafen, um dann in seinem normalen, gewohnten Zuhause zu erwachen.
    Doch sein früheres Zuhause gab es nicht mehr, seine Großmutter war nicht mehr da, und mit seiner Mutter geschah eine Art Wunder, wie mit einem verzauberten Kind im Märchen. Sie verwandelte sich in das Gegenteil ihrer selbst: Sie war weich und füllig und wurde hart, sie war dunkelblond und schon ein wenig grau und wurde brünett. Sie schminkte sich die Lippen und trug einen neuen Persianermantel, der schwarz war und knisterte, anstelle des alten grauen Kaninchenfells, mit dem sie Sanja in seiner Kindheit zugedeckt hatte.
    Am unerträglichsten aber war ihre neue Stimme: hell, einschmeichelnd, mit einem lauten Lachen am Ende jedes Satzes. Nein, noch unerträglicher waren die nächtlichen Geräusche der Vereinigung, das Quietschen der Bettfedern, das Keuchen, Stöhnen …
    Die Hauswartskammer, die verfluchte Hauswartskammer der Potapow-Gasse befand sich nun dort, wo die Großmutter früher in schlaflosen Nächten ihre geliebten Schriftsteller Flaubert und Proust gelesen hatte.
    Er konnte nicht schlafen. Kurze, sprunghafte Wechsel zwischen Schlaf und Wachen, und dabei der ständige Gedanke: Anjuta ist nicht mehr. Anjuta ist für immer weg.
    Wenn er endgültig aufwachte, fiel er in die gewohnte Verzagtheit. Er wusch sich und verließ das beschmutzte Zuhause. Wenn er keinen Unterricht hatte, besuchte er Micha.
    Dessen Stimmung war auch nicht die beste: Er hatte noch immer keine Arbeit, einen ehemaligen Häftling stellte niemand ein, und also auch kein Geld. Aljona versuchte sich im Unterrichten. Freunde gaben ihnen hin und wieder etwas Geld, und Micha nahm es schweren Herzens an. Marlen war endlich nach Israel ausgereist – überstürzt und ganz überraschend – und schrieb, Micha solle ebenfalls kommen. Doch Emigration lehnte Micha ab.
    »Alle reden nur von einem – von Emigration. Alle haben ihre Argumente, dafür und dagegen. Aber ich ziehe diese Möglichkeit gar nicht in Betracht, Sanja. Ich würde dort sterben.«
    Maja, die Sanja abgöttisch liebte und dem fast fremden Vater nicht recht traute, kroch auf Sanjas Schoß und kitzelte ihn hinterm Ohr. Ein vertrautes Spiel zwischen ihnen beiden.
    »Micha, sterben werden wir in jedem Fall. Und Musik und Poesie gibt es überall, nicht nur in Russland«, bemerkte Sanja.
    »Musik ja, aber Poesie nicht. Die Poesie hat ihre Sprache, und diese Sprache ist Russisch! Ich bin doch Dichter, ein schlechter vielleicht, aber ein Dichter«, explodierte der schüchterne Micha. »Ich kann nicht ohne Russland leben!«
    Darauf wusste Sanja nichts zu erwidern. Er konnte schließlich nicht sagen: Ja, du bist ein schlechter Dichter. Und die guten? Die konnten?

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