Das gruene Zelt
Feigheit vor. Der, normalerweise ein beherrschter Mann, wurde plötzlich wütend und beschimpfte den Freund auf eine Weise, die zwischen ihnen eigentlich nicht üblich war.
Daraufhin machte ihm Pjotr höchst unerfreuliche Vorhaltungen: Niemand sei feiger als Offiziere. Und je höher der Rang, desto feiger. Gestandene Männer, die den Krieg mitgemacht hatten, ohne Angst vor Kugeln, vor dem Feind, die sich nicht hinter fremden Rücken versteckt hatten, hätten nun Schiss vor der Obrigkeit und verteidigten nicht mehr die Heimat, sondern ihren wohlgenährten Hintern und ihren Sessel.
Da sich das Ganze auf Afanassis Datscha abspielte, wies dieser dem Freund die Tür, und zwischen den beiden Generalen kam es zu einem ähnlichen Zwist, wie ihn Nikolai Gogol beschrieben hat. Zwar fiel weder das Wort »Schwein« noch »Ganter«, aber der »Feigling« kränkte Afanassi zutiefst.
Für seinen skandalösen Auftritt wurde Pjotr umgehend bestraft: Er wurde in den Fernen Osten versetzt, faktisch in die Verbannung geschickt, der Obrigkeit aus den Augen. Dort ödete ihn das Provinzleben zunächst an, doch dann wurde er aktiv – er organisierte einen Bund Gleichgesinnter, die ebenso wie er das Land, das vom richtigen Weg abgekommen war, wieder auf den leninschen Kurs zurückbringen wollten. Diese illegale Tätigkeit mit geheimen Treffen und sogar Flugblättern währte jedoch nicht lange. Pjotr wurde verhaftet, aus der Partei geworfen und dann in einer nichtöffentlichen Gerichtsverhandlung zu vergleichsweise lächerlichen drei Jahren verurteilt. Als zusätzliche Strafe wurde er zum einfachen Soldaten degradiert, der Generalsrang, die Kriegsauszeichnungen, die Generalsrente und sämtliche dazugehörigen Vergünstigungen wurden ihm aberkannt.
So begann Pjotr Nitschiporuks neue Biographie. Nach und nach warf er neben überflüssigem Gewicht auch seine überholten Vorstellungen vom Leben ab. Er verbüßte die drei Jahre, kam frei, wurde erneut inhaftiert. Dachte er zurück an sein früheres, »akademisches« Leben, wie er es nun spöttisch nannte, bezeichnete er es als kindlich.
Er war ein kluger Kopf, der General. Nicht ohne Grund hatte er an der Akademie den Lehrstuhl für Taktik geleitet. Aber er hatte einen ungleichen Kampf gegen eine Macht aufgenommen, die nicht mit Verstand, sondern mit Gewalt agierte. Was konnte er da mit so etwas wie Taktik oder Strategie ausrichten? Wohin die von dem Ex-General beleidigte Macht ihn auch schickte: ins Gefängnis, ins Lager, in die psychiatrische Heilanstalt – sobald er herauskam, machte er weiter.
Im Frühjahr 1972 war ihm eine kurze Atempause vergönnt – er wurde entlassen. Zu der Zeit war er kein einfacher Soldat mehr, sondern bereits wieder ein richtiger General einer kleinen Dissidentenarmee. Es gibt eben Menschen, die zum General geboren sind.
Nitschiporuk wusste, dass die Mächtigen den Feinden im eigenen Land nicht verziehen, darum war ihm klar, dass er nicht lange in Freiheit bleiben würde. Er genoss sein Zuhause, den Kontakt mit Menschen, jeden Spaziergang durch die Stadt. Er war frei! Frei!
Aber dieses Gefühl war trügerisch: Sein Telefon wurde abgehört, er wurde weiterhin überwacht. Er beschloss, nach Minsk zu fahren, er hatte dort zu tun. Was genau, sagte er nicht einmal seiner Frau Soja. Und sie, seine erfahrene Gefährtin, fragte auch nicht.
Er kaufte eine Fahrkarte für den Abendzug, ging nach Hause, packte ein paar Sachen – Wechselwäsche, Rasierzeug, die beiden schon ziemlich zerlesenen letzten Nummern der Zeitschrift »Nowy mir« und einen kleinen Plüschhund für die Enkelin eines Freundes.
Sie hatten sich gerade zum Abendessen gesetzt, als es klingelte. Es war Sojas Freundin Swetlana, eine enge Vertraute. Sie brachte Neuigkeiten: Gestern habe es Haussuchungen gegeben, bei Chartschenko und bei Wassilissa Trawnikowa. Chartschenko hätten sie mitgenommen, Wassilissa nicht.
Nitschiporuk zuckte die Achseln: Bei ihm zu Hause war alles sauber.
»Das wissen die doch nicht. Sie werden kommen und alles durchwühlen«, wandte Swetlana ein.
»Aahh«, fiel Nitschiporuk ein. »Meine Auszeichnungen! Auf dem Papier wurden sie mir aberkannt, aber die Orden sind alle noch im Haus. Die sollen sie nicht kriegen. Die müssen weg, Soja. Würden Sie sie fortschaffen, Swetlana?«
»Wird gemacht. Aber ich schicke lieber meine Mädchen her. Das ist sicherer. Heute Abend.«
Tatsächlich kamen am selben Abend, Nitschiporuk war bereits abgereist, zwei Mädchen vorbei, die nicht
Weitere Kostenlose Bücher