Das gruene Zelt
älter aussahen als fünfzehn, Tonja, eine Dicke mit vollen Wangen, und Sima, eine ziemlich Hässliche, beide mit Strickmütze und -schal, Schülerinnen von Swetlana.
Sie blieben verlegen an der Tür stehen. Soja bat sie abzulegen und stellte ihnen Tee und Gebäck hin. Doch sie behielten ihre identischen blauen Mützen auf und saßen schweigend am Tisch. Soja legte ein ziemlich schweres Bündel vor sie hin – in Zeitungspapier gehüllt und mit Schnur umwickelt. Vor ihren Augen schob sie es in eine selbstgenähte Einkaufstasche. Dann legte sie einen Zettel auf den Tisch: »Die Kriegsorden, zum Aufbewahren.« Die Mädchen nickten einhellig. Soja griff nach einem Streichholz und verbrannte den Zettel, hielt die Reste unter den Wasserhahn und warf sie in den Mülleimer.
Die Mädchen sahen sich an: Ein ernster Auftrag.
Sie verließen das Haus und schauten sich nach allen Seiten um. Es war still und menschenleer, launisches Aprilwetter. Schweigend liefen sie zur Metro. Am Platz vor dem Belorussischen Bahnhof stiegen sie aus. Tonja brachte Sima bis zur Haustür. Dort reichte Sima der Freundin die Tasche.
»Weißt du, ich hab Angst, dass meine Mutter sie findet. Nimm du sie, ja?«
»Gut.« Tonja willigte ergeben ein. »Aber wo soll ich sie verstecken? Vielleicht in der Kammer? Gleich unter der Treppe ist ein Verschlag. Doch da wird oft das Schloss aufgebrochen und Brennholz geklaut.«
»Brennholz, wofür?«
»Für gar nichts. Wir haben schon lange keine Öfen mehr, aber das Holz ist noch da. Und wird manchmal geklaut.«
»Aber jetzt ist doch fast Sommer …«
»Na ja, stimmt …«
Tonja fuhr mit dem O-Bus vom Belorussischen Bahnhof fast bis zu ihrer Haustür, bis zum Dsershinski-Platz.
Zu Hause war zum Glück niemand anwesend: Ihr Neffe Vitka saß bei den Nachbarn, seine Mutter Valka war auf Sauftour, und Tonjas älterer Bruder Tolja saß noch im Gefängnis.
Die Mutter war auch nicht da, sie hatte heute Spätschicht.
Das Bündel gegen den Leib gepresst, lief Tonja durch die Wohnung. In einen Karton und auf den Schrank? Leere Kartons gab es keine, nur drei bis obenhin volle. Im untersten Schrankfach lag Werkzeug, da ging die Mutter manchmal ran, wenn sie den Hammer oder einen Nagel brauchte. Das Zeug stammte noch von Tonjas Vater. Die Wäsche war ordentlich zusammengelegt und gestapelt, nur ganz unten lag ein zusammengeballter Haufen. Alte angerauhte Trikotunterwäsche, einst hellblau und pfirsichfarben, mit ausgeblichenem und durchgescheuertem Zwickel. Die Mutter schnitt stabilere Stücke immer heraus und nähte mit grober Steppnaht mehrschichtige Flicken in Unterhosen, die noch zu gebrauchen waren. Tonja nahm eine besonders zerschlissene Unterhose, wickelte das Leinenbündel darin ein und schob es ganz hinten an die Wand. Es nahm fast das halbe Fach ein. Also wickelte sie das Bündel auf; es enthielt elf hübsche Schachteln. Darin lagen die Kriegsauszeichnungen, mit Emaille und Gold, sehr schön und überraschend schwer. Tonja beschloss, die Schachteln wegzulassen, sie brauchten zu viel Platz. Sie nahm die Orden heraus, befestigte einen nach dem anderen an dem Lumpen und rollte ihn zu einer Wurst zusammen, die sie erneut ganz nach hinten schob. Die Schachteln legte sie in ihre persönliche Ecke im obersten Fach. Leere Schachteln, was war das schon? Das Wichtigste waren ja die Orden.
Am frühen Morgen des 9. Mai entdeckte Vitka, Tonjas rotzfrecher Neffe, das zusammengerollte Bündel im Schrank. Die Kinder auf dem Hof hatten behauptet, die Mutter würde Geld im Schrank verstecken, unter der Wäsche. Man müsse nur richtig suchen. Er begann mit dem untersten Fach. Geld fand er nicht, stieß aber sofort auf das Bündel ganz hinten, es war ziemlich schwer. Er zog es heraus, wickelte es auf – es war eine Unterhose seiner Großmutter, gespickt mit Orden und Medaillen. Und mit was für welchen! Es war just der passende Tag für Orden – der Tag des Sieges. Vitka rollte die Unterhose auf – eine Pracht! Es waren viele Orden, er zählte fünf, dann noch einmal fünf und noch eine Medaille. Sie waren alle auf verschiedene Art festgeschraubt oder -gesteckt. Vorsichtig, sich vor Konzentration auf die Zunge beißend, löste er sie und befestigte sie dann alle bedenkenlos an seinem Hemd, auf beiden Seiten der Brust. Sie zogen das Hemd schwer hinab; Gold, Silber und Kremlsterne funkelten. Er ging hinaus auf den Hof zu den anderen Jungen, denen er ja versprochen hatte, im Schrank unter der Wäsche nach Geld zu suchen.
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