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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Chodassewitsch? Zwetajewa? Nabokov? Verdammt noch mal!
    Doch Micha kehrte wie ein Pendel immer wieder zum Ausgangspunkt zurück: die russische Sprache, die russische Metaphysik … Russland, Lethe, Lorelei …
    Sanja versuchte, das Pathos zu dämpfen:
    »Hör zu, mein Freund, verlass Russland mitsamt deiner Lorelei, sonst versinkst du vor der Zeit in unserer Lethe.« Er verzog das Gesicht über seinen eigenen unbeholfenen Scherz.
    »Geh fort, Micha. Das hier ist ein verlorener Ort. Und Anjuta ist tot.«
    Dabei dachte er an Lisa: Sie war dort geblieben, hatte ihren Großvater verlassen, der sie abgöttisch liebte, und lebte nun hinter den Spiegeln. Aber wieso hinter den Spiegeln? In Wien spazierten Mozart und Schubert und die ganze Wiener Schule über den Ring.
    Während Sanja die Treppe hinunterging, begann er einen langen Monolog, der mit Musik unterlegt war – Streichinstrumente schluchzen, Blech schmettert, das Altsaxophon klagt mit negroider Stimme, die Worte dringen nur mit Mühe durch, undeutlich, aber zwingend.
    »Anjuta ist gegangen, gestorben, die Arme, ihre Finger so dünn, keine klappernden Ringe … Selbst ihr Geruch ist nirgends mehr.«
    Ein kurzer Lauf über Michas Hof, an dem Eckhaus vorbei, vom Tschistoprudny-Boulevard auf die Marossejka.
    »Micha, Waisenkind, Sippe, schreckliche Kindheit, Aljona so ätherisch, mein Gott, es riecht nach Irrsinn, es riecht nach Taubstummengestammel, die Armen, die Armen alle.«
    Bläser, voran! Die Klarinette seufzt, die Flöte weint …
    Die Straßenbahngleise überqueren, wo das für die anderen unsichtbare Denkmal für den minderjährigen Rowdy stand, der hier vor zwanzig Jahren zu Tode gekommen war.
    Fortissimo, Schlagzeug.
    Blech, Blech, Blech … und quietschende Bremsen.
    »Der unglückliche Junge im Wattemantel, auf dem Kopf eine Soldatenmütze, er rennt und rennt, das kalte Metall in der Faust.«
    Nach links, in die Pokrowka, zu dem Kommoden-Haus.
    »Die armen Finger, die armen Finger, für immer verloren. Für Geige, für Saxophon und Klarinette, für Akkordeon und Ziehharmonika, selbst für die vulgäre Balalaika. O mein Klavier!«
    Ein Klavierduett! Vierhändig! Am rechten Flügel Lisa, am linken ich. Lisa beginnt mit dem Thema, ich falle ein.
    Und gleich nach rechts, zum Seitenflügel. Die Streichergruppe. Die Geigen beginnen. Piano, pianissimo. Was für ein Rausch! Das Klavierthema wird von den Streichern weiterentwickelt, verfeinert. Gesteigert. Und das Ganze endet mit der tiefen, traurigen Stimme des Cellos.
    »Sie schleppen Schlittschuhe, Einkaufsnetze, Aktentaschen, Notenmappen, hundertmal vom Schuster geflickte Schuhe. Sie schleppen Krankheiten mit sich herum, Unglück, Vorladungen, Bluttests, Müll, ein Hündchen, eine Flasche.«
    Vor der Tür, die Hand bereits auf dem einzigen verbliebenen Bronzeknauf im ganzen Haus, ließ er die Musik anschwellen und schleuderte sie dann mit aller Kraft zu Boden, so dass sie zerschellte und barst.
    »Und wenn es Dich doch gibt, Herr, dann hol mich weg von hier und bring mich an einen anderen Ort. Hier kann ich nicht mehr leben. Ohne Anjuta kann ich hier nicht …«
    Er betrat das Haus. Stieg hinauf in den ersten Stock. Ging in die Wohnung und blieb stehen. Lastotschkin, den gusseisernen Griff einer riesigen Pfanne mit einem Rest von Anjutas Bluse umwickelt, brachte Bratkartoffeln mit Speck aus der Gemeinschaftsküche und verbreitete einen durchdringenden Gestank.

Die ordengeschmückte Hose
    1961 redete Pjotr Petrowitsch Nitschiporuk auf einer Parteikonferenz und sprach aus, was ihm auf der Seele lag: Der Stalinkult sei entlarvt worden, doch nun entstehe allmählich ein neuer Personenkult – um Chrustschow. Die leninschen Normen seien in Vergessenheit geraten, man müsse zu ihnen zurückkehren, müsse die Demokratie stärken, die Verantwortlichkeit der gewählten Vertreter gegenüber dem Volk, und dazu müssten die hohen Gehälter abgeschafft und die Unabsetzbarkeit von Amtspersonen aufgehoben werden. Er sagte, was er dachte.
    Zuvor hatte er all diese Argumente an seinem Freund Afanassi Michailowitsch ausprobiert, einem Kommilitonen von der Akademie des Generalstabs, an der sie beide vor dem Krieg kurze Zeit studiert hatten. Afanassi unterstützte ihn nicht, obwohl er ihm in allem zustimmte. Doch er missbilligte Pjotrs Absicht, seine Gedanken auf der Parteikonferenz vorzutragen.
    »Nützen wird es gar nichts, aber du wirst eine Menge Ärger kriegen«, urteilte Afanassi über Pjotrs Vorhaben.
    Pjotr warf Afanassi

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