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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Doch die Jungen hatten ihn inzwischen ebenso vergessen wie er sie und waren weg. Während er noch unschlüssig von einem Fuß auf den anderen trat und nicht wusste, wo er sie suchen sollte, erschienen drei große Jungen – Artur der Armenier, Sewka und Timka Holzkopf. Sie stürzten sich sofort auf ihn und griffen nach den Orden. Vitka brüllte und rannte zum Tor hinaus.
    Der vierzigste Tag nach Anna Alexandrownas Tod fiel auf den 9. Mai, und Wassili Innokentiewitsch, Oberst des medizinischen Dienstes im Ruhestand, ging diesmal nicht zum Treffen der Regimentskameraden, sondern zum Gedenkgottesdienst in die Peter-und-Paul-Kirche. Bis zum Gottesdienst blieb ihm noch eine Stunde, und er beschloss, vom Dsershinski-Platz zu Fuß zu gehen. Er lief die Serow-Straße entlang, auf der anderen Straßenseite lag die Westwand des Polytechnischen Museums. Aus einem Torbogen kamen mehrere Jungen gerannt und fielen ihm ineinander verknäult direkt vor die Füße. Der Kleinste, der von den anderen verfolgt worden war, brüllte laut. Der alte Mann hob ihn auf – der Junge war etwa sieben und hatte schiefe Zähne und Zahnlücken. Die drei älteren Jungen verschwanden im Torbogen, lugten aber um die Ecke. Der Kleine wand sich wie ein Fisch an der Angel, auf seinem Hemd klapperte buntes Metall. Kriegsauszeichnungen …
    Wassili Innokentiewitsch stellte den Kleinen auf den Boden, hielt ihn an den Schultern fest und betrachtete den Kriegs-Ikonostas. Neben den üblichen Auszeichnungen, die an diesem Tag auf vielen alten Uniformjacken und neuen Jacketts von Veteranen spazieren getragen wurden, entdeckte Wassili Innokentiewitsch auch seltene – »Für die Verteidigung des sowjetischen Polarkreises«, »Für die Einnahme von Königsberg« und eine ganz besondere, amerikanische, mit Lorbeerkranz, Sternen und Zacken: den Orden »Legion of Merit«. Den hatten die Verbündeten 1945 nach der Einnahme von Berlin hohen sowjetischen Offizieren verliehen.
    Einen der damit Ausgezeichneten kannte Wassili Innokentiewitsch. General Nitschiporuk hatte 1945 in seinem Lazarett gelegen. Abends hatte er als Leiter des Lazaretts den General oft besucht. Sie hatten geredet, oft auch zusammen getrunken. Vom Lazarett aus war der General zur Ordensverleihung gefahren, und am Abend hatten sie die Auszeichnung gemeinsam begossen! Wassili hegte keinen Zweifel, dass all diese Orden General Nitschiporuk gehörten – dafür sprachen auch die beiden anderen, weit bekannteren, für Königsberg und den Polarkreis. Diese Geographie entsprach exakt der Kriegsbiographie von Pjotr Nitschiporuk.
    Etwa gestohlen, überlegte Wassili, und sofort fiel ihm ein, dass ihm jemand erzählt hatte, General Nitschiporuk sei verrückt geworden oder sitze für irgendwelche antisowjetischen Dinge im Gefängnis. Doch an die Einzelheiten erinnerte er sich nicht.
    »Wie heißt dein Großvater?«, fragte Wassili für alle Fälle, die mageren Schultern fest umklammernd.
    »Ich hab keinen Großvater. Lass mich los!«, brüllte der Junge.
    »Woher hast du die Orden?« Der alte Mann packte ihn am Schlafittchen und schüttelte ihn.
    »Aus dem Schrank, von meiner Oma! Die hat mir meine Oma gegeben!« Er war nicht schüchtern, der Kleine, er wand sich und versuchte sich loszureißen. Schließlich biss er Wassili in die Hand.
    »Ach, du kleiner Lümmel!« Der alte Mann war verärgert. »Na los, wir gehen zu deiner Oma!«
    »Sie ist nicht da! Sie ist nicht zu Hause!« Der Junge zappelte und strampelte.
    »Dann bring mich zu deiner Mutter!«, verlangte der Alte, den Jungen mit eiserner Hand am Arm haltend.
    »Nein! Das werde ich nicht tun!«, schrie der kleine Vitka. Dann verstummte er und schlug in ernstem Erwachsenenton einen Handel vor.
    »Sie können die Dinger ruhig haben, die Jungs nehmen sie mir sowieso weg! Aber wir gehen nicht zu mir nach Hause!« Er stellte sich vor, wie seine Oma schreien und seine Mutter ihn verprügeln würde. Besser, er ergab sich gleich.
    »Zieh das Hemd aus«, befahl Wassili.
    Er wollte die Orden und Medaillen von dem verwaschenen blauen Hemd lösen und es seinem Besitzer zurückgeben. Doch kaum hielt er das metallbehangene Hemd in der Hand, entglitt ihm der Junge wie ein Stück Seife und verschwand im Torbogen.
    Sie wurden ihm gestohlen, zweifellos wurden sie ihm gestohlen, dachte Wassili, rollte das ordengespickte Kinderhemd zusammen und stopfte es mit einiger Mühe in seine Jacketttasche. Durch das Gewicht hing das Jackett nun ein wenig schief.
    Eine sonderbare

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