Das gruene Zelt
sondern eine Art Hochstapler!«
Lena schaute sie verständnislos an – träumte sie dieses wirre Zeug, oder was?
Sie gingen wieder in die Küche, Anna Antonowna hatte den Tisch gedeckt. Pascha aß einen Teller Borstsch, bedankte sich und sagte, sie sei satt, mehr brauche sie nicht.
Dann tranken sie Tee, bis zwei Uhr nachts. Kostja verstand nicht alles von dem, was Pascha erzählte. Er fragte immer wieder nach, als wäre sie eine Ausländerin: Wiederholen Sie das bitte noch einmal, Matuschka, das habe ich nicht verstanden, was meinen Sie damit, Matuschka, erklären Sie es bitte …
Und sie erzählte, erklärte, demonstrierte, sang, weinte, und an der Tür stand Anna Antonowna, ganz still und mit runden Augen.
Mit Daten hatte Pascha Probleme, aus ihrem Bericht war unmöglich zu verstehen, wann der Urgroßvater verhaftet und wann er freigelassen worden war. Zuerst wurde er verbannt, ins Gebiet Archangelsk, dann wurde er Witwer, kehrte in seine Heimat zurück und wurde wieder verhaftet.
»Auf den Solowki-Inseln, da wurde er dann präkonisiert.« Vor Hochachtung kniff sie die Augen zusammen.
»Was wurde er, Matuschka?«, unterbrach Kostja.
»Zum Bischof geweiht. Heimlich natürlich.« Sie lächelte über seine Unwissenheit in den einfachsten Dingen.
»Vor dem Krieg wurde der Wladyka wieder freigelassen, kam aber nicht bis nach Hause, sondern wurde erneut verhaftet. Aus dem Lager ist er noch während des Krieges geflohen und hat sich viele Jahre in den Muromer Wäldern versteckt, in einer Einsiedelei. Da hat mich meine Mutter das erste Mal zu ihm gebracht, und seitdem habe ich ihm gedient, bis zu seinem Tod. Wie meine Mutter ihm gedient hatte, so sollte auch ich es tun. Zweimal im Jahr durfte man ihn aufsuchen. Aus ganz Russland kamen dann die Menschen zu ihm. Geistliche und weltliche. Einmal gab es einen feindlichen Überfall – unser Wladyka hatte eine Katze, der sind sie gefolgt. Sie fanden die Einsiedelei und zerstörten sie, ihn selbst aber trafen sie nicht an. Zehn Kilometer weiter verbarg sich noch ein Starez 20) , der war sehr krank, und der Wladyka war zu ihm gegangen, ihm das Abendmahl zu erteilen. Von da kam er nicht wieder zurück, er wurde gewarnt, also ging er noch tiefer in die Wälder und verließ seinen heiligen Ort. Mich haben gute Menschen zu ihm gebracht. Mein Mütterchen war inzwischen schon verstorben. Manchmal blieb ich dort und lebte eine Weile bei ihm.«
20) wörtl. »Alter« – asketisch lebender Mönch der Ostkirche. Anm. d. Ü.
»In welchem Jahr war das?«, fragte Kostja, denn ihm schien, als sei von uralten Zeiten die Rede, von vor hundert Jahren.
»Ich weiß nicht genau. Seit dem Krieg hat er dort gelebt, viele Jahre. Und 1956 – daran erinnere ich mich genau, da war ich dabei – wurde er schwer krank, er lag so gut wie im Sterben. Wir haben alle gebetet – meine Mutter lebte damals noch, schaffte den Weg zu ihm aber nicht mehr. Schwester Alewtina und Schwester Jewdokija waren bei ihm, aus Nishni Nowgorod Anna Leonidowna, seine geistliche Tochter, und ich.
Batjuschka verabschiedete sich und machte sich bereit zum Sterben, aber Anna Leonidowna sagte, ich hole einen Arzt. In Murom gibt es einen. Sie brachten einen Arzt zu ihm, einen Chirurgen, der war gläubig. Ein guter Doktor, Gott sei seiner Seele gnädig, er ist jung gestorben. Iwan hieß er, obwohl er Armenier war. Zuerst hat er geweint und beteuert, unter diesen Bedingungen könne er dem Patienten nicht helfen, er müsse ins Krankenhaus. Das Ganze war im Winter, der Wladyka wohnte in einer Erdhütte, in einem Hügel. Der Eingang war eine richtige Höhle. Ein Fenster gab es nicht, es war Tag und Nacht finster, so hat er jahrelang gelebt. Drinnen war’s genauso kalt wie draußen. Ein Öfchen hatte er, aber ohne Abzug, damit niemand den Rauch bemerkte. Aber ins Krankenhaus – wie denn? Ohne Papiere, ohne alles, und dann der Weg, fast zwanzig Kilometer zu Fuß. Außerdem war der Wladyka gegen eine Operation. Er hat sehr gelitten und auf den Tod gewartet. Der Arzt wollte schon wieder gehen, da brach eine Beule am Bauch auf, und Blut und Eiter quollen heraus. Nun musste der Arzt doch etwas tun und alles reinigen – das Ganze dauerte drei Stunden. Am Ende dachten wir, der Wladyka wäre von uns gegangen. Ganz weiß lag er da, weißer als Schnee, und der Arzt tastete ständig nach dem Puls, er hatte auch Angst, dass er stirbt.
›Sie begleiten mich hier wieder heraus‹, hat er gesagt, ›und eine von Ihnen kommt mit zu mir
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