Das gruene Zelt
erklingt in seinem neuen, vollkommenen Gehör.
Auf dem Tisch blieben Michas Brille und ein Blatt Papier zurück, auf dem sein letztes Gedicht stand.
Wenn irgendwann bei hellem Tageslicht
Die Zukunft wird mein Credo offenbaren:
Ich war ein Mensch, ich hab euch nicht verraten,
Niemals. Ihr Freunde, betet nun für mich.
Die gläubigen Freunde des ungläubigen Dichters nahmen Abschied von ihm – jeder, wie er es verstand. In Taschkent ehrten ihn die Tataren mit einem Totengebet nach muslimischem Brauch. In Jerusalem bestellten Marlens Glaubensgenossen einen Kaddisch, zehn Juden sprachen für ihn Worte auf Hebräisch, und in Moskau bestellte Olgas Freundin Tamara ein Requiem in der Preobrashenski-Kirche, deren Priester nicht engstirnig war und es wagte, eine Totenmesse für einen Selbstmörder zu lesen.
Das Gesicht des Toten war mit einem Tuch bedeckt. Es waren viele Menschen gekommen, und alle weinten. Viktor Juljewitsch stand mit gesenktem Kopf da, Tränen rannen über sein unrasiertes, ungepflegtes Gesicht.
»Der arme Junge! Der arme Micha! Das ist auch meine Schuld …«
Begleitet wurde der alte Lehrer von Michail Kolesnik, seinem Jugendfreund. Sie standen nebeneinander – »drei Arme, drei Beine«, wie sie sich nannten.
Sanja weinte – bei ihm saßen die Tränen immer locker. Ilja hatte seinen Fotoapparat dabei und fotografierte das Abschiednehmen. Alle kamen ins Bild, sogar Safjanow mit seiner Saffiangeschwulst auf der Wange. Für ihn war das ein Fiasko. Ein großes Fiasko!
Aljona war nicht auf der Beerdigung. Ihre Eltern hatten entschieden, ihr in ihrem schwierigen psychischen Zustand lieber nichts vom Tod ihres Mannes zu sagen. Später, irgendwann später.
Eine russische Geschichte
Im Winter, während der Januarfröste, bekamen Kostjas Kinder die Masern und seine Frau Lena eine akute Nierenbeckenentzündung. Lenas Mutter Anna Antonowna, eine Schneiderin, die bereits Rentnerin war und sonst beim ersten Hilferuf sofort aus Opalicha herbeieilte, konnte wegen der Kälte nicht weg: Das Haus musste ständig geheizt werden, damit die Rohre nicht einfroren.
Solange der Frost anhielt, lief Kostja also allein von Bett zu Bett, mit Medizin, Nachttöpfen, Tassen und Tellern. Lena weigerte sich, ins Krankenhaus zu gehen, lag flach und weinte still aus Mitleid mit den Kindern und mit Kostja.
Dann kam Anna Antonowna doch noch, krempelte die Ärmel hoch und schickte Kostja wieder zur Arbeit. Er fuhr in sein Labor, wo ohne ihn nichts lief. Wieder rannte er sich die Hacken ab, diesmal wegen einer langwierigen Synthese, die in seiner Abwesenheit gescheitert war. Die Temperatur war nicht sorgfältig eingehalten worden, und am Ende war ein ganz anderes Produkt herausgekommen. Aber auch dieses Ergebnis war interessant. Die Chemie ist eine rätselhafte Wissenschaft, und Fehler in Experimenten führen manchmal zu wichtigen Entdeckungen.
Mitten am Tag bekam er einen Anruf von zu Hause: Die besorgte Schwiegermutter erklärte, eine sonderbare Alte in Filzstiefeln sei da und habe etwas Wichtiges für Kostja mitgebracht, wolle es aber nicht dalassen, sondern auf Kostja warten und es ihm persönlich übergeben. Sie sitze im Wohnzimmer, wolle nicht ablegen, nichts essen und trinken und rieche entsetzlich. Komm schnell her, Kostja.
Kostja fragte nach dem Fieber der Kinder und erhielt die beruhigende Auskunft, es sei gesunken. Nach fünf Tagen mit fast vierzig, war das natürlich Anna Antonownas wohltuendem Einfluss zuzuschreiben. Kostja nannte seine Schwiegermutter sogar »Baldriana« wegen ihrer beruhigenden Wirkung auf alles Lebendige, von den boshaften Nachbarn bis zu den Nachbarshunden, ganz zu schweigen von Kindern und Pflanzen. Eine herzensgute Frau.
Kostja wuselte noch eine Stunde im Labor herum und fuhr dann nach Hause – sich um die stark riechende Alte kümmern.
Von Gestank war keine Spur. Es roch nach grobem Schaffell, an diesem säuerlichen ländlichen Geruch war nichts Widerliches. Offenbar hatte die Alte sich doch überreden lassen, abzulegen und Tee zu trinken, denn unter der Flurgarderobe lag ein großer alter Schaffellmantel. Kostja wollte ihn aufhängen, doch etwas so Luxuriöses wie ein Aufhänger fehlte. Daneben standen besohlte Filzstiefel. Auch sie rochen – nach nasser Wolle. Die Alte saß nicht mehr im Wohnzimmer – sie war in die Küche umgezogen. Und trank ihren Tee, sehr stark und schwarz.
Sie sah ganz und gar aus wie vom Lande mit ihren vier Tüchern, von denen sie zwei auf dem Kopf trug –
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