Das gruene Zelt
schlecht. Außerdem ist es geschenkte Zeit.«
»Geschenkt?«
»Wäre ich in der Heimat geblieben, wäre ich längst gestorben – an Armut, kaputten Nerven und dem schrecklichen Gesundheitswesen.«
Sanja drehte sich weg und betrachtete den schweren Vorhang, als schaute er aus dem Fenster.
Tja, und ich werde auch trotz einem guten bald abkratzen, dachte er.
Er wusste, dass die Krankheit, die schon seit acht Jahren in seinem Blut saß, unheilbar war.
Auf dem Tisch standen Pappboxen aus einem Chinarestaurant. Die Tür ging auf. Aus dem Halbdunkel erschien Maria, nahm Gestalt an wie ein Foto im Entwicklerbad.
»Anna macht Theater, sie verlangt, dass Onkel Sanja ihr noch gute Nacht sagt.«
»Darf ich?« Sanja stand auf.
»Ja, ja.« Maria nickte.
»Ich komme mit runter«, sagte der Hausherr.
Maria ging vor, die anderen folgten ihr im Gänsemarsch die Treppe hinunter, sie gingen durch den Flur und blieben vor einer halboffenen Tür stehen. Das Mädchen saß in seinem Bettchen und sah fiebrig aus. Das Licht einer Stehlampe seitlich hinterm Bett färbte ihr zerzaustes Haar golden, und es glänzte wie Lametta.
»Papa, du hast mir versprochen …«
»Was, mein Kätzchen?«
Mein Gott! Sein Kind – und spricht nicht einmal Russisch, dachte Lisa entsetzt.
»Ich weiß nicht mehr, was du mir versprochen hast.« Sie verzog den Mund, wollte anfangen zu weinen.
»Das hier, schau mal.« Sanja hielt etwas in der geschlossenen Faust verborgen.
Das Mädchen mühte sich, die Faust zu öffnen, aber Sanja machte ein Spiel daraus und hielt sie fest geschlossen. »Vorsichtig, Anna, das kleine Ding kann kaputtgehen.«
Er öffnete die Hand – darauf lag eine kleine gläserne Maus.
»Erinnerst du dich jetzt, was ich dir versprochen habe? Dass Sanja kommt und dir ein gläsernes Mäuschen mitbringt.«
»Gar nicht, du hast mir nicht Sanjas Mäuschen versprochen. Das ist keine versprochene Maus, das ist einfach nur eine Maus. Dankeschön. So eine Maus hat mir noch niemand geschenkt!«
»Schläfst du jetzt mit dem Mäuschen?«, fragte Maria.
»Ja«, willigte das Mädchen friedfertig ein. »Aber lass das Licht an, Mama.«
»Das kleine lasse ich an, das große mache ich aus.«
»Dann hat das Mäuschen bestimmt Angst.«
»Na gut, sag allen gute Nacht und mach die Äuglein zu …«
Das rotblonde Kind im weißen Schlafanzug mit gestickten Erdbeeren darauf, das Gesicht vom Fieber gerötet und die Lippen aufgesprungen, legte sich im Bett zurecht, strampelte ein wenig mit Armen und Beinen und klopfte Kissen und Decke zurecht, um sich eine Art Nest zu bauen. Sanja hatte das seltsame Gefühl, das alles schon einmal erlebt zu haben: ein rotblondes Mädchen, Glasspielzeug, Tränen …
Lisa stand an der Schwelle, sie war nicht näher getreten.
Was für ein Wunder, in einem Alter, da es schon Zeit wäre für Enkel … Er ist glücklich … Nein, nein, ich brauche das nicht, ich habe das nie gebraucht. Weder damals noch jetzt.
Von der Liebe, der sie seit ihrer Kindheit treu war, bekam man keine Kinder.
Maria blieb noch eine Weile im Kinderzimmer, dann ging sie hinauf zu den Gästen. Die Reste der Speisen aus dem Chinarestaurant standen auf einem Tablett auf dem Fußboden an der Tür. Sie tranken keinen Tee nach dem Essen – dieser russische Brauch hatte sich in dem Vierteljahrhundert der Emigration verflüchtigt. Sie tranken italienischen Wein.
Der Hausherr aß Kuchen aus einer Pappschachtel. Wischte sich ungeniert den Mund ab.
»Und, wie ist es? Tragen Sie uns etwas vor?« So war sie, offen und gut erzogen, doch die Offenheit überwog. Darum wurde sie nun verlegen, völlig unnötigerweise. Der Dichter trug auch ohne jede Bitte etwas vor, er brauchte dieses laute Rezitieren – das Vibrieren der Luft, diesen Lebensbeweis.
Kleine Städte wo sie lieber nicht die Wahrheit reden.
Wozu brauchst du sie – sie ist eh schon von gestern.
Dieses Gedicht war ganz neu, dann trug er noch weitere vor.
Sanja bemerkte, dass Lisa ihre Finger irgendwie seltsam verkrümmte. Seit ihrer Kindheit litt sie unter heftigen Kopfschmerzattacken, und die bekämpfte sie mal mit Tabletten, mal mit homöopathischen Kügelchen und seit einigen Jahren mit komplizierten Fingerübungen. Indische Magie. Normalerweise setzten ihre Kopfschmerzen nach einem Konzert ein, manchmal nach einem Interkontinentalflug. Und nun – nach dem Vortrag von Gedichten. Diese Lyrik aufzunehmen war offenbar schwere Arbeit.
Lisa, die Finger noch immer verschlungen, presste die Hände
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