Das gruene Zelt
gegen die Schläfen.
Der Hausherr unterbrach seine Lesung. Leerte sein Weinglas.
Sie hat Kopfschmerzen, erriet Sanja.
»Darf Sanja ein wenig Musik abspielen? Ganz leise?«, fragte Lisa.
»Möchten Sie eine Tablette?«, fragte der Hausherr.
»Nein, aber wenn ich darf, lege ich mich hier kurz hin.« Lisa legte sich auf die Couch.
Sanja schob die Kassette ein. Beethovens letzte Sonate, gespielt von Eschenbach. Eigentlich konnte Sanja es nicht ausstehen, Musik abzuspielen, wenn gesprochen wurde.
»Bitte, das ist Eschenbach.« Sanja drückte die Starttaste.
Bei den ersten Tönen wechselten Lisa und Sanja einen Blick.
Der Dichter sah das und sagte zu seiner Frau:
»Sie hören etwas, das einfache Menschen nicht hören können.«
Sie bewegte zustimmend leicht das Kinn.
Ein friedliches und wunderschönes Gesicht … Lippis Madonna? Nicht ganz. Aber der gleiche Typ … Woher? Ach ja, Puschkins Natalja, natürlich. Sanja lächelte über seine verspätete Entdeckung.
Nach einer Weile ging Maria hinunter zu ihrer Tochter. Kam zurück, blieb noch zehn Minuten sitzen und ging dann endgültig.
Sie leerten die zweite Flasche. Der Wein war gut.
Dann brachte der Hausherr die Gäste zur Tür und trat mit ihnen hinaus auf die Vortreppe.
Regen, Schnee und Wind hatten sich gelegt. Es war sehr still. Die Temperatur war gefallen. Alles – der Asphalt unter den Füßen, Hauswände, Baumstämme, Äste und Zweige – war mit einer dünnen Eisschicht überzogen und glitzerte im Licht der Straßenlampen.
Die Tür schlug überraschend laut zu.
»Wie gut, dass wir ihn besucht haben. Und überhaupt …« Sanja wies mit einer unbestimmten Geste auf die vereisten Bäume.
Lisa lächelte.
»Du bist der einzige Mensch auf der Welt, der meine Migräne spürt.«
»Und du bist die Einzige, die überhaupt … alles spürt.«
Plötzlich stellte er eine Frage, die er ihr schon vor dreißig oder vor zwanzig Jahren hätte stellen können.
»Sag mal, Lisa, warum haben wir beide nicht geheiratet? Damals, als wir noch jung waren?«
»Weißt du das wirklich nicht?«
»Na, ja, ich vermute es … Der dicke Boris …«
»Das hätte ich von dir nicht erwartet! Was hat der dicke Boris damit zu tun? Nach zwei Jahren hat er mich mit meiner Freundin betrogen, und damit war die Sache beendet. Aber du und ich – das wäre Blutschande gewesen. Bei den Ägyptern war das erlaubt, aber in unserer Welt können Bruder und Schwester nicht heiraten. Nicht einmal Cousin und Cousine. Wir sind zwar nur Großcousin und Großcousine, aber doch verwandt. Deine Großmutter und mein Großvater waren Cousin und Cousine. Und es heißt, dass sie sich sehr nah waren.«
»Nein, Lisa, nein. Nicht so, wie du denkst. Großmutter hat ihren zweiten Mann sehr geliebt, den Schauspieler, der im Lager umgekommen ist. Ich glaube, diese Ehe war glücklich. Aber sonst habe ich keine glücklichen Ehen erlebt. Erinnerst du dich an Ilja und Olga? Ein furchtbares Ende. Micha und Aljona … Noch schlimmer. Er war ein wunderbarer Junge.«
»Sie alle hat die Sowjetmacht umgebracht. Schrecklich.« Lisa verzog den Mund.
»Wieso alle? Aljona lebt noch, soweit ich weiß. Sie hat einen Maler geheiratet, einen Litauer oder Letten. Sie lebt friedlich irgendwo im Baltikum. Überhaupt liegt nicht alles an der Sowjetmacht. Unter jeder Macht sterben Menschen. Ach, wozu daran zurückdenken. Die Vergangenheit wird immer mehr, die Zukunft immer weniger.« Er lächelte. Beim Gedanken an die Vergangenheit? An die Zukunft?
Auch Lisa lächelte.
»Ach ja, ich wollte dir noch sagen, warum mir Eschenbach nicht gefällt. Nicht weil das Tempo anders ist oder die Energie irgendwie fremd. Er zielt von Anfang an – versteh mich nicht falsch – auf das Publikum ab. Er spielt, um zu gefallen. Dazu hat sich Maria Judina nie herabgelassen.«
Lisa zupfte an Sanjas Ärmel, wie in ihrer Kindheit.
»Na und. Rachmaninow tat das sehr wohl. Er hat gekürzt, wenn das Publikum sich langweilte! Und Richter? Ein Genie, ein Künstler! Aber doch auch ein wenig ein Clown! Er geht auf das Publikum ein!«
»Trotzdem, ich sage es noch einmal, Maria Judina war absolut nicht vom Publikum abhängig. Sie hat es immer auf ihr Niveau emporgehoben.«
»Lisa, diese Zeit ist vorbei, das ist doch klar. Gerade in der Musik sieht man das am deutlichsten. Die Musik ist anders geworden.«
»Trotzdem schafft niemand Beethoven oder Bach ab. Sieh dir doch das Repertoire junger Interpreten an. Findest du da viel Cage?«
»Aber ich rede
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