Das gruene Zelt
von etwas anderem, Lisa. Natürlich schafft niemand Beethoven oder Bach ab. Selbst wenn jemand das wollte, wäre es unmöglich. Trotzdem ist diese Kultur vorbei und eine neue angebrochen. Heute ist die Kultur ein Flickenteppich aus Zitaten. Die alte Zeitrechnung ist vorbei, die gesamte Kultur ist wie eine geschlossene Kugel. Die zweite Avantgarde ist in die Kultur eingegangen, in jenen Teil, der nicht veraltet ist. Innovationen veralten am schnellsten. Strawinski, Schostakowitsch, sogar Schnittke, der die Avantgarde verraten hat, sind heute Klassiker. Die zyklische Zeit rotiert, nimmt dabei alles Neue auf, und das Neue unterscheidet sich nicht mehr vom Alten, die Idee der Avantgarde hat sich überlebt, denn in der Kultur gibt es keinen Fortschritt, sie ist etwas Endgültiges, eine Offenbarung …«
»Sanja, was ich dich schon lange fragen wollte, seine Zeilen ›Von der Erde entschwebt ein Klavier in selbstentfachte Stürme das polierte Segel erhebend‹ – ist ihm denn nicht klar, dass …?«
»Dass der Sturm nicht selbstentfacht ist, versteht er offenbar nicht«, stimmte Sanja ihr zu. »Aber mach dir um ihn keine Sorgen, dafür versteht er vieles, wovon wir keine Ahnung haben.«
»Natürlich. Aber du weißt doch, dass alle hiesigen Stürme nur ein Abglanz sind, schwache Schatten der Stürme, die er selbstentfacht nennt?«
Sie standen mitten auf der leeren Straße, nur ein paar Meter vom Haus des Dichters entfernt.
»Ja, natürlich, wir wissen das. Wie hat er dir heute eigentlich gefallen?«, fragte Sanja.
»Er sieht glücklich aus«, antwortete Lisa matt.
»Hm, ihr Frauen!« Sanja lachte spöttisch.
»Was denn, hab ich was Falsches gesagt?«, fragte Lisa verstört.
»Nein, nein. Ich fand, er sieht müde aus. Und er war heute außergewöhnlich schweigsam.« Sanja legte ihr den Arm um die Schulter.
Es war sehr glatt. Lisa fasste Sanja unter, und sie gingen vorsichtig in Richtung Subway.
»Jetzt ist jedem klar, dass er ein Genie ist. Ich meine, im russischen Sinn des Wortes, nicht im europäischen.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst.« Lisa war verwundert, weil sie ihn normalerweise auf Anhieb verstand.
»Nun, nicht einfach ein Mensch mit einer göttlichen Gabe für die Poesie oder die Musik, sondern jemand, der wie ein Eisbrecher seiner Zeit voraus ist, der Mauern niederreißt, neue Wege bahnt, und dem dann viele kleine Schiffe und Boote folgen können. Der Spur eines Genies folgen zuerst die Sensibelsten, Begabtesten, dann die Masse, und die Offenbarung wird Allgemeingut. Dafür verstehen wir Mittelmäßigen – nein, ich rede nicht von dir, ich rede von mir – dank der Genies nach und nach immer mehr. Doch sie sind ihrer Zeit voraus.«
»Ja, ja, natürlich. Und die Sonate Nr. 32 ist dafür ein wunderbares Beispiel. Sie ist jeder Zeit voraus, der von Beethoven genau wie unserer.«
»Natürlich, Beethoven ist ein Genie. Er hat die klassische Musik vollendet, hat einen Kanon geschaffen und ihn selbst wieder zerstört. Die klassische Struktur war ausgeschöpft – nur Themen mit Variationen. Er hat die Grenze der Grenzen überschritten. Er komponiert, wie er will – keine Rondos und Scherzi, überhaupt keine tänzerischen Formen mehr.« Sanja winkte ab. »Ach, mir fehlen die Worte.«
Lisa blieb stehen.
»Nein, da kann ich dir nicht ganz zustimmen. Erstens hat Beethoven Rondo, Scherzo und all die Tanzformen bis zum Schluss beibehalten. Zweitens – was ist denn die Arietta in der letzten Sonate? Doch nichts anderes als der Schatten eines Menuetts! Ja, der Schatten eines in den Himmel entschwebten Menuetts, zu dem, wenn überhaupt, nur Engel tanzen. Wenn es sie gibt! Kein Tanz mehr, sondern nur noch ein Zeichen, ein Symbol. Jenseits der Grenzen des Lebens, außerhalb der Zeit, in der Körperlosigkeit.«
Lisa hielt sich an Sanja fest – es war schrecklich glatt, die vereisten Bäume glitzerten im Lampenlicht. Sie drückte seinen Arm – wie in ihrer Jugend, wenn sie im Konservatorium nebeneinander saßen und sich mit heimlichen Zeichen verständigten.
»Ja, natürlich. Aber die Sache mit der Zeit ist trotzdem interessant«, fuhr Sanja hartnäckig fort. »Sie bildet Schichten, sie bewegt sich nicht von A nach B … Wie eine Zwiebel, in der alles gleichzeitig geschieht. Auf das Ende zu … Daher die Zitate. Ich glaube, Wertvolles veraltet nicht. Denn von allem gibt es auf der Welt eine Menge, und auch Welten gibt es eine Menge – das ist mein Eindruck. Beethovens Welt, Dantes Welt, Schnittkes
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