Das gruene Zelt
Krasnopresnenski-Gericht und gesellte sich zu der Menge junger Frauen und Männer mit intelligenten und mutigen Gesichtern. Sie schienen sich alle zu kennen, manchmal zog einer der Männer eine Flasche aus seiner Aktentasche oder einen Flachmann aus dem Jackett und reichte sie herum. In diesen Augenblicken fühlte sich Olga einsam und unglücklich – ihr wurde nie etwas angeboten. Eines Tages ging sie in eine Pelmenistube neben dem Gericht, weniger zum Essen als zum Aufwärmen, saß zufällig an einem Tisch mit dieser Gruppe und wurde als dazugehörig akzeptiert, als sie sagte, dass sie ihre Diplomarbeit bei dem Angeklagten geschrieben habe und aus diesem Grund von der Uni geflogen sei.
Ein hochgewachsener Mann, der ihr in der Menge schon zuvor aufgefallen war, weil er trotz des grimmigen Frosts keine Mütze trug und sein Lockenkopf schneebedeckt war; weil er hin und wieder einen Fotoapparat herausholte oder jemandem irgendwelche Papiere zusteckte und weil er einmal vor aller Augen in einen Bus geschubst und fortgebracht worden war; also dieser fröhliche junge Mann bot ihr gesetzwidrig Wodka an, direkt unter dem Schild mit dem Hinweis, das Mitbringen und Konsumieren alkoholischer Getränke sei streng verboten, und sie trank davon fast ein halbes Wasserglas.
Damit begann das Glück. Es roch nach zerkochten Pelmeni und nassen Pelzmänteln, ein wenig nach Chlor und ein wenig nach vergorenem Alkohol, es roch nach Gefahr und nach Verwegenheit, und Olga spürte, dass sie in die Partei der Sympathisanten des Angeklagten aufgenommen worden war. Dieses Gefühl ähnelte der kindlichen kollektiven Freude an Pionierveranstaltungen, knisternden Lagerfeuern unter nachtblauem Himmel, Komsomoleinsätzen zur Kartoffelernte und gemeinsamem Gesang in der Vorortbahn, aber nun wurde ihr klar, dass all ihre kindlichen Erfahrungen nur Ersatz oder Vorbote dieser wahren Gemeinschaft kluger, bedeutender und mutiger Menschen gewesen waren; sie schienen treue Kameraden zu sein, sie klopften einander auf die Schulter, lachten ab und zu auf, aber meist flüsterten sie heimlich miteinander. Der Anziehendste an diesem Tisch war der große Lockenkopf. Er hieß Ilja. Und schenkte den Wodka aus.
So kam es, dass Olgas Familie weiter ihr altes Leben führte, Olga dagegen ein ganz neues. Dann war der Prozess vorbei, die Antisowjetschiks hatten ihre verdiente Strafe bekommen und verbüßten sie, doch der Kreis derjenigen, die sich auf dem Hof des Krasnopresnenski-Gerichts gedrängt hatten, schloss sich enger zusammen.
Das Wort »Dissidenten« war noch nicht in die russische Sprache eingegangen, der Begriff »Generation der Sechziger« wurde nur mit den Anhängern Tschernyschewskis assoziiert, doch in klugen Köpfen regten sich bereits heimliche Gedanken, lautlos wie Würmer und gefährlich wie Spirochäten. Ilja erklärte sie Olga in verständlicher Form zwischen ihren Umarmungen in dem Zimmer seiner Mutter, in dem auch er vor seiner Heirat gewohnt und das er noch nicht ganz aufgegeben hatte. Dorthin ging er mit Olga gelegentlich, und zwar ausschließlich vormittags, denn seine Mutter arbeitete von acht bis drei als Krankenschwester in einem Kindergarten.
Ilja kannte den Dozenten, der nun im Lager saß, und fast alle, die damals im Hof des Gerichts ausgeharrt hatten, und außerdem wusste er fast alles, besonders das, was kleingedruckt in Anmerkungen stand. Je kleiner etwas gedruckt war, desto mehr schien es Ilja zu interessieren. Besonders viel wusste er über Dinge, die in Universitätslehrbüchern gar nicht erwähnt wurden. Sein Wissen schöpfte er aus Bibliotheken, wo er seine Schuljahre und die Zeit danach verbracht hatte. Zu Olgas großem Erstaunen hatte der hochgebildete Ilja nicht studiert, er besaß nur einen Zehnklassenabschluss, und weil er nicht für den Staat arbeiten wollte, war er offiziell bei einem Akademiemitglied als Sekretär angestellt.
Ihre Romanze realisierten Olga und Ilja im Wesentlichen bei Spaziergängen durch das alte Moskau, das er gut kannte. Manchmal blieb er vor einem schiefen Häuschen mit eingefallener Treppe stehen und sagte: Dieses Haus stand schon vor dem großen Brand, hier war Wjasemski oft zu Besuch. Hier hat Mandelstam seinen Bruder besucht … und in dieser Apotheke hat Jelena Bulgakowa die Medikamente für ihren Mann geholt.
Am meisten aber wusste er über die Futuristen, über die gesamte russische Avantgarde. Stundenlang stand er vor den Ladentischen der Antiquariate, wo er auch jeden kannte und jeder
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