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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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ihm. »Was machen Sie hier? Wie können Sie es wagen? Verschwinden Sie!«
    Und er ging fort. Er sah nicht, wie der Sarg, eine Sonderanfertigung – für so dicke Menschen gab es keine fertigen –, mühsam in die offene hintere Tür des Leichenwagens geschoben wurde, wie die zahlreichen jüdischen Verwandten einstiegen. Auch seine beiden ehemaligen Kolleginnen, zu denen Sofja nach ihrer Rückkehr wieder Kontakt aufgenommen hatte, sah er nicht.
    Sie erkannten ihn und schauten sich an. Sie würden noch lange über ihn und Sofotschka tratschen, verschiedene Vermutungen anstellen. Und schließlich zu der einhelligen Meinung gelangen, dass Sofotschka ihnen etwas vorgemacht hatte, wenn sie über ihren hohen Blutdruck, ihr Alter und ihre Einsamkeit klagte, denn in Wirklichkeit hatte sie sich mit ihrer alten Liebe getroffen. Sie überlegten, rechneten nach. Seit 1935, das waren zweiunddreißig Jahre, die erzwungenen Unterbrechungen nicht mitgerechnet.
    Der General, mit der blaugefrorenen Hand die Mimose umklammernd, ging zum O-Bus. Er dachte an die Worte von Sofjas Schwester. Sofja hatte also alles gewusst. Und ihm demnach verziehen.

Alle sind Waisen
    Die Beerdigung war, wie gesagt, furchtbar bitter. Keiner der Anwesenden weinte oder zeigte Trauer. Diese vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod der Literaturfunktionärin registrierte der Bestattungsbeauftragte des Schriftstellerverbandes, Ari Lwowitsch Bas. Der Vierundsiebzigjährige war seit sechzig Jahren Bestatter. Dieses Gewerbe war Familientradition. Schon sein Großvater hatte die Bestattungsbruderschaft in Grodno geleitet. Ari Lwowitsch beherrschte sein Geschäft bis ins kleinste Detail. Er war nicht nur ein genauer Kenner innerhalb der aussterbenden Bestatterzunft, er war auch ein Poet dieses uralten Gewerbes.
    Ein großer Zeremonienmeister, berühmte Schriftsteller hatte er schon beerdigt: Alexej Tolstoi, Alexander Fadejew, sogar Gorki – teilweise … Die erste große Beerdigung, an der er beteiligt gewesen war, noch nicht als Hauptorganisator, aber als erster Assistent, hatte 1930 stattgefunden. Damals war Ari auch zum ersten Mal mit Antonina Naumowna zusammengetroffen. Das hatte er nicht vergessen. O ja, das hatte sich eingeprägt!
    An jenem Apriltag war er gegen Mittag angerufen worden, er solle kommen und einen Toten vermessen, einen Selbstmörder. Ari fuhr in die Gendrikow-Gasse, aber dort war er falsch. Erschossen hatte sich der berühmte Dichter woanders, in der Lubjanka, wo sich sein Arbeitszimmer befand. In der Gendrikow-Gasse fand Ari anstelle des Toten nur drei Lebende vor: zwei Männer von der GPU und eben jene Antonina, offenbar eine Schriftstellerin.
    Die Männer warfen alle Papiere aus dem Schreibtisch, Antonina schrieb irgendetwas. Ein Mann mit einer vollen schwarzen Mähne blitzte Ari mit schamlosen Zigeuneraugen an – raus hier! Zu Tode erschrocken rannte Ari die Treppe hinunter und kam erst unten zu sich. Durch seinen Beruf erfahren, fürchtete er sich nicht vor Toten. Er fürchtete die Lebenden. Zwei Stunden später wurde der Tote gebracht und auf einer Trage in den dritten Stock geschafft. Erst, als die drei mit zwei Aktentaschen das Haus verlassen hatten, ging Ari wieder hinauf.
    Mehrere Menschen, darunter zwei Damen, von denen eine heftig weinte, standen im Flur. Die Zimmertür stand offen, vor der Tür stritten zwei. Es ging um das Siegel, das einer eben von der Tür abgenommen hatte, und der andere schimpfte:
    »Das wirst du allein verantworten. Sie haben das Zimmer versiegelt, also darf man da nicht rein.«
    Der andere konterte grob:
    »Und wohin mit ihm, mit dem Toten? Im Flur abstellen? Wieso habt ihr solchen Schiss vor jedem kleinen Siegel? Ich hab Befehl – an Ort und Stelle bringen!«
    Ari vermaß den Toten – ein Meter einundneunzig. Eine Sonderanfertigung.
    Das Begräbnis war aufsehenerregend. Tausende Menschen verstopften die Worowski-Straße, und dann lief diese ganze Menge zum Donskoi-Kloster, folgte zu Fuß dem LKW mit dem Sarg und einem einzigen Kranz – einem Metallungetüm aus merkwürdigen Elementen, Sensen und Hämmern. Keine einzige Blume. Ein merkwürdiges und pompöses Begräbnis war das. Außerordentlich prachtvoll. Eine so allgemeine Trauer hatte Ari noch nie zuvor erlebt. Und sollte sie auch später lange nicht erleben. Vielleicht erst dreißig Jahre später wieder, bei der Beerdigung von Pasternak.
    Ari war inzwischen auf seinem Bestatterposten fest etabliert, niemand aus der Schriftstellerzunft wurde

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