Das gruene Zelt
schönste Aufnahme, die es von ihr gab: ein junges Mädchen in Lederjacke mit zusammengepresstem Mund.
In ihr Arbeitszimmer hatte Antonina keines der antiken Möbelstücke ihres Mannes gelassen. Hier stammte alles aus der Stalinzeit, einschließlich der Metallschilder an den wuchtigen, einst staatseigenen Möbeln. Auf dem staatseigenen Ledersofa war die Schriftstellerin auch gestorben.
Olga hatte, sobald der Körper weggebracht war, die Matratze abgenommen, und Kostja hatte sie auf den Müll geschafft. Auch die Medikamentenfläschchen hatte sie weggeworfen, außer dem Geruch war nichts mehr davon übrig.
Als Valentina das Zimmer ihrer Schwester betrat, staunte sie, wie ungemütlich es wirkte. Drei Amtsstubenporträts an der Wand – ein großes, Lenin mit einem Baumstamm auf der Schulter, und zwei kleine, Stalin und Dsershinski. Sie setzte sich auf die Kante des Ledersofas und legte die Aktentasche ordentlich auf ihren Schoß.
Mama hatte genau so eine Aktentasche, registrierte Olga. Die Tante war noch kleiner als Antonina und ebenso mager. Sie war sogar ähnlich gekleidet: eine abgetragene Strickjacke, darunter eine graue Bluse, ein Rock voller Katzenhaare.
Ich muss ihr Mamas Sachen geben, den Pelz, den Mantel, beschloss Olga.
»Oletschka, ich weiß nicht, ob deine Mutter das gutheißen würde … eher nicht. Aber ich habe trotzdem beschlossen, dir die Familienfotos zu geben, die ich noch besitze.«
Was für eine feierliche Einleitung … Ach ja, und die Schuhe. Die pelzgefütterten Stiefel, die hat Mama vor fünfzehn Jahren aus Jugoslawien mitgebracht, die darf ich nicht vergessen …
Inzwischen hatte Valentina das Schloss aufschnappen lassen und ein dünnes, in Zeitungspapier gewickeltes Päckchen aus der Aktentasche genommen.
»Das ist, wenn man so will, unser Familienarchiv, zumindest das, was davon übrig ist.« Vorsichtig wickelte sie das Zeitungspapier Schicht für Schicht ab, bis Fotografien zum Vorschein kamen. Dann stand sie auf und legte ein Stück Karton aus einem vorrevolutionären Atelier und zwei verblasste Amateurfotos auf den Tisch.
»Ich habe mit Bleistift dünn auf die Rückseite geschrieben, wer das ist und wann …« Sie strich behutsam über die auf Karton aufgeklebte Fotografie und glättete die beiden unscharfen Amateurfotos, die sich immer wieder zusammenrollten. »Wenn ich sie nicht dir und Kostja übergebe, dann erinnert sich niemand mehr an unsere Vorfahren …«
Was für Vorfahren? Ihre Mutter hatte gesagt, sie sei früh Waise geworden, sie erinnere sich nicht an ihre Angehörigen, und die, an die sie sich erinnere, seien gefallen oder gestorben …
»Das ist unser Vater Naum Ignatjewitsch mit unserer Mutter. Deine Großeltern also.« Sie zeigte mit alterskrummem Finger auf den Rand eines Fotos. In einem Sessel sitzt ein Priester mit einer Mähne bis auf die Schultern, einem Bart fast bis zum Bauch und schwarzen, wie angeklebten Brauen, hinter ihm steht eine hübsche Frau mit einem dunklen, auf Bauernart gebundenen Kopftuch und in einem herrschaftlichen Seidenkleid mit einer Art Glasperlenstickerei auf dem Kragen. Neben dem Vater stehen drei halbwüchsige Jungen, die Mutter trägt einen Zweijährigen auf dem Arm, einen etwas älteren Jungen hält ein schwarzhaariges Mädchen mit strenger und geschäftiger Miene an der Hand.
»Unsere Mutter, Tatjana Anissimowna, geborene Kamyschina, stammt ebenfalls aus einem Priestergeschlecht. Ihr Vater war Inspektor des Seminars von Nishegorod. In unserer Familie waren alle Männer Geistliche, alle – Großväter, Urgroßväter und Onkel.«
»Das hat Mama nie erzählt …«, flüsterte Olga. Ihr versagte die Stimme.
»Das hatte seinen Grund – sie waren allesamt Priester.« Die Tante nickte und zeigte wieder auf ein verblasstes Sepiafoto. »Unser Vater Naum Ignatjewitsch kommt nach seiner Mutter Praskowja – schwarze Haare, schwarze Augen; sie war Griechin, auch aus einer Popenfamilie. Seit Praskowja in die Familie eingeheiratet hat, schlugen die Kinder aus der Art und bekamen schwarze Haare.«
»Aber Mama hat nie erzählt …«
»Ja, ja, natürlich nicht. Sie hatte Angst. Ich will dir alles erzählen, was ich weiß. Antonina hat als Kind viel im Haus geholfen. Sie war ein gutes Mädchen. Sie war damals die einzige Schwester unter fünf Brüdern. Drei waren älter, zwei jünger, um die hat sie sich gekümmert. Andrej und Pantelejmon, die kamen nach der Mutter, waren beide blond. Und sind beide im selben Jahr gestorben, schon in der
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