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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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eingefallen, das Gesicht verbarg sie hinter einer Hand, doch die Hand war noch dieselbe, groß und mit Grübchen unter jedem Finger. Aber kein roter Nagellack, nur ein schwaches Rosa. Er erkannte ihre Hand. Mit dieser Hand hatte sie viele Jahre seinen kahlen Kopf gestreichelt und so mit einer einzigen Bewegung Sorge und Unruhe von ihm genommen. Er lief ihr nach, holte sie ein.
    »Sofja Markowna!«
    »Afanassi!«, sagte sie, die Hand vorm Mund. »Mein Gott!«
    Von ihren zuckerweißen Zähnen war nur noch jeder zweite vorhanden.
    »Du bist wieder frei?«
    »Seit elf Monaten, seit letztem Juli.«
    »Warum hast du dich nicht gemeldet?« Er konnte sie nicht ansprechen, weder mit ihrem Vornamen, noch mit Vor- und Vatersnamen.
    Sie winkte ab mit ihrer wunderschönen Hand und ging weiter, fort von ihm. Er holte sie ein, berührte ihre Schulter. Sie blieb stehen und fing an zu weinen. Er nahm seinen Strohhut ab und weinte ebenfalls. Sie war nicht mehr wie früher, sie war ganz anders, doch im nächsten Augenblick verschmolzen sie miteinander – jene majestätische Schönheit und die, die sie jetzt war – abgemagert, weniger schön, aber trotzdem die Allerbeste auf der Welt.
    Sie war bei ihrer Schwester Anna auf der Datscha, ganz in der Nähe. Er ließ seinen Wagen am Markt stehen und begleitete sie. Sie liefen schweigend, sagten kein Wort – beiden hatte es den Atem verschlagen. Er dachte die ganze Zeit nur an eines: Wusste sie von jener Unterschrift? Kurz vorm Ziel blieb sie stehen.
    »Hier verabschieden wir uns. Sie dürfen dich nicht sehen. Das ist auch für dich besser. Weißt du, mein Bruder ist erschossen worden.«
    Sie weiß es, dachte er. Das Herz sank ihm hinab in den Magen, und ihm wurde übel. Aber was genau weiß sie? Vielleicht denkt sie, ich hätte ihren Bruder denunziert?
    Sofja hatte ihm Iossif einmal vorgestellt, er war ein fröhlicher Bursche, arbeitete im Theater von Michoels und schrieb irgendwelche Geschichten auf Jiddisch. Zweimal hatten sie sich gesehen. Aber unterschrieben hatte Afanassi Michailowitsch nur ein Papier. Und das betraf nicht den Bruder.
    »Wohnst du noch wie früher in der Dajew-Gasse?«
    »Nein, bei meiner Schwester. Das Zimmer ist vergeben worden. Da wohnt jetzt der Hauswart«, sagte sie gleichmütig, und er dachte an das Zimmer, das nach dem Parfüm »Rotes Moskau« roch, an den Haufen Kissen, an die Sammlung von Parfümflakons und die vielen Katzen – aus Porzellan, Glas und Stein. »Sie haben versprochen, dass ich es zurückbekomme, dass sie den Hauswart raussetzen.«
    Das Zimmer bekam sie tatsächlich kurz darauf zurück. Afanassi rief hin und wieder von einer Telefonzelle aus die alte Vorkriegsnummer an, wollte Sofja besuchen. Lange lehnte sie ab.
    »Nein, bitte nicht, ich will nicht, ich kann nicht.«
    Doch eines Tages sagte sie: Komm her.
    Und er stieg wieder die Hintertreppe hoch, vom Hof aus, denn Sofjas Zimmer lag direkt an der Hintertreppe. Er hatte auch früher nie den Vordereingang benutzt, war nie hinaufgegangen zu der Wohnungstür mit den sieben Klingeln, auch früher hatte er an die Wand geklopft, und sie hatte den großen Haken zurückgelegt, mit sich und ihrem süßen Parfüm die ganze dunkle Diele ausgefüllt, seine Hand genommen und ihn in ihr Nest geführt, in ihre Kissen und Decken, und er hatte sich in der Wärme ihres prachtvollen, unter ihm nachgebenden Körpers verkrochen.
    Die ganze frühere Nähe war auf einmal wieder da, sogar noch intensiver, denn jetzt war sie etwas, das sie für immer verloren geglaubt und unverhofft wiedergefunden hatten.
    So begann der zweite Teil eines langen Films über eine große Liebe. Eines allerdings hatte sich verändert. Über die Arbeit kein Wort. Sofja verhielt sich wie immer äußerst taktvoll. Sie stellte keine Fragen. Von ihren düsteren Jahren erzählte sie nichts. Sie sprachen nur über das, was er anschnitt. Meist über sein Zuhause, über die Familie. Und viel über Olga, seine Tochter. Sofja kannte sie von Geburt an, wenn auch nicht persönlich. Nur von Fotos. Einmal, kurz vor dem Unglück, noch 1949, hatte er sich entschlossen, Sofja seine Tochter zu zeigen – er hatte drei Karten für ein Kinderballett gekauft. Zwei Karten für die erste Reihe waren für Olga und ihre Freundin, die dritte, daneben, gab er Sofja. Die Mädchen saßen neben ihr, und sie sah die beiden an, während sie auf die Bühne schauten.
    Gerahmte Fotos des kleinen Mädchens hingen fortan bei ihr an der Wand. Und so ging es weiter – Sofja

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