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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Nach dem Krieg, als Afanassi zum Chef einer Schule für Militärbauwesen ernannt wurde, machte er seine ehemalige Sekretärin ausfindig, und wieder war sie an seiner Seite wie Aaron an der von Moses. Wenn er etwas Unverständliches knurrte, liefen seine Untergebenen zu Sofotschka, um es sich erklären zu lassen.
    Sie besaß eine gute Erziehung und Taktgefühl. Die Erziehung vom Gymnasium her, das sie bis zu ihrem fünfzehnten Lebensjahr besucht hatte, bis sich die Gymnasien wegen der Revolution erledigten. Und das Taktgefühl von Natur aus. Ebenfalls von Natur aus – eine üppige Schönheit. Ihr Kopf mit den starken Augenbrauen und den großen Augen wurde von dem mächtigen, zu einem schlichten Knoten gewundenen Zopf leicht nach hinten gezogen – bis 1949. Dann wurde der Zopf abgeschnitten. Und obwohl Sofotschka nicht hochgewachsen war, wirkte sie wegen der majestätischen Brust in den weiten blauen und grünen Kleidern und wegen ihrer vollen Arme und der molligen Hände mit den roten Fingernägeln recht groß. Oh, und wie groß – nicht nur wegen ihrer auffallenden Statur, sondern wegen ihres ganzen Wesens. Ihr Spitzname war »die Kuh«. Sie erinnerte in der Tat an eine Kuh. An die Kuh Europa. Aber das wusste der General nicht. Obwohl – dass sie eine Göttin war, wusste er. Und er betete sie an. Nie kam ihm der kleinliche Gedanke, dass er seine Frau betrog. Seine Frau war das eine, Sofotschka etwas anderes. Etwas ganz anderes. Und wäre er ihr nie begegnet, hätte er nie erfahren, wie süß die Liebe ist, was eine Frau ist und welch tiefes Vergessen sie einem von anstrengender Bautätigkeit erschöpften Mann schenken kann.
    In all den Jahren, da sie bei ihm arbeitete, bis 1949, brachte sie ihn nur ein einziges Mal, schon kurz vor dem Ende, in eine etwas peinliche Situation. Sie fiel vor ihm auf die Knie, barg ihr Gesicht an seiner Gabardinehose und hinterließ an einer unziemlichen Stelle eine rote Lippenstiftspur. Aber was hätte er tun können? Er sagte: Nein, von deinem Bruder kein Wort.
    Wie soll ich deinem Bruder helfen, dachte er damals, hoffentlich kann ich wenigstens dich schützen. Aber er schaffte es nicht.
    Der General wurde in die Kaderabteilung bestellt, und es hieß: Die Sekretärin muss weg.
    Darauf er, wie üblich nuschelnd: »Eine unentbehrliche, wertvolle Mitarbeiterin.« Und sein Gegenüber, ein junger Hauptmann mit schütterem, störrischem Haar, engstehenden Augen – eine weißliche Acht – und blauen Schulterstücken. Offenbar pfiffen sie darauf, dass er an der Front gewesen war, ein verdienter General – sie hätten ihm aus Respekt wenigstens einen Oberst vorsetzen können …
    »Sie decken Ihre Geliebte! Sie wissen, dass ich weiß, dass Sie wissen …«
    »Ach, tun Sie, was Sie meinen«, kapitulierte Afanassi Michailowitsch nach über einer Stunde, »Sie haben Ihr Ressort, ich bin für Straßen zuständig, für Brücken und Eisenbahngleise.«
    Der Weißblonde lächelte unfreundlich und nickte. Aber die Zustimmung des Generals zu ihrer Entlassung genügte ihm nicht. Der Handel ging weiter. Ein beinahe sachliches Gespräch, doch der Hauptmann bedrängte ihn immer weiter. Über alles wusste er Bescheid, über das, was im Büro vor sich ging, und über die heimlichen Besuche. Er machte halbe Andeutungen, sprach nicht geradeheraus, und dann plötzlich: »Und in der Dajew-Gasse besuchen Sie sie nicht? Sofotschkas Schwester Anna Markowna haben Sie nie kennengelernt? Sie ist Professorin, nicht? Und Iossif Markowitsch, ihr Bruder, Schauspieler am jüdischen Theater, ist Ihnen gänzlich unbekannt?«
    Geht es ihnen wirklich nur um Sofotschka?, fragte sich Afanassi plötzlich. Er wurde schweißnass.
    Müssen wir uns trennen? Sie trennten sich – kraft einer einzigen Unterschrift. Am nächsten Morgen wurde die neue Sekretärin geschickt, und Sofotschka war weg. Über vier Jahre war sie weg. Anfang 1954 kehrte sie aus dem sibirischen Karaganda zurück. Ein Jahr verging, bevor sie sich wiederbegegneten. Und wo! Zum Lachen! Auf dem Markt in Nachabino, an einem frühen Morgen im Juni. Afanassi kaufte Radieschen und Möhren. Am Sonntag erwarteten sie Gäste, Antonina war beschäftigt und hatte vergessen, die Haushaltshilfe auf den Markt zu schicken. Afanassi bot seine Hilfe an – nur fort aus dem Haus, weg von der Küchenhektik. Er fuhr allein, mit seinem privaten Pobeda, ohne Chauffeur.
    Sie hatte ihn zuerst erkannt und drehte sich weg. Der Zopf war nicht mehr da, ihre einst füllige Gestalt

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