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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Tischplatte und verspürte plötzlich Sehnsucht nach ihrem Vater. Sie dachte an seine poröse Nase, an seine herabhängende Oberlippe, an den kindlichen Ernst, mit dem er in der Werkstatt auf der Datscha seine Holzmöbel abgehobelt hatte, und an den Geruch nach Spänen und Politur, der ihm anhaftete. Das war am Ende seines Lebens gewesen, als er im Ruhestand war. Ihretwegen, wegen ihrer Dummheit, wegen der Geschichte an der Uni … Wie hatte die Mutter damals getobt, und wie streng, mit gesenktem Blick, hatte der Vater geschwiegen. Hatte geschwiegen und geschwiegen – und seinen Abschied eingereicht.
    »Batja, Batja«, flüsterte Olga.
    Das hörte ihre Freundin Tamara, die neben ihr saß. Die zartfühlende Seele legte es auf ihre Art aus. Sie flüsterte:
    »Ja, Oletschka, das denke ich auch – jetzt sind deine Eltern wieder zusammen.«
    Ari betrachtete mit Kennerblick die prächtigen Möbel und korrigierte seine Statuseinschätzung. Empiremöbel waren in reichen Häusern in Mode, derartige Raritäten hatte er im Haus der verstorbenen, eher schlichten Parteifunktionärin nicht erwartet. Interessant, eine interessante Geschichte. Zögernd, ob sich nicht noch jemand Bedeutenderes fände, stand er auf.
    »Gedenken wir nach altem Brauch der lieben Antonina Naumowna. Nicht anstoßen, nicht anstoßen!«
    Alle tranken. Kostja nippte nur an seinem Glas und stellte es wieder ab. Er mochte keinen Wodka. Er hätte gern Wein getrunken, aber der wurde nicht angeboten.
    Olga dagegen trank aus und wurde sofort betrunken. Wärme stieg ihr in den Kopf und sank in die Beine, sie fühlte sich ganz matt. Sie hatte einen Ellbogen aufgestützt, eine Wange, eingefallen und mit deutlich sichtbaren Sommersprossen, lag auf ihrer Hand. Sie war rosig angelaufen wie in ihrer Jugend, ja, sie wirkte sogar jünger. Die Haare, die nach der schrecklichen Chemotherapie nachgewachsen waren, wirkten frisch und neu, sie kräuselten sich über der Stirn sogar, und ihre frühere Farbe – der österlich festliche Zwiebelschalenton – kam nun wieder durch.
    Tamara sah sie erstaunt an, bemerkte, wie gut sie aussah, und freute sich: Sie ist auferstanden, Olga ist nach dieser schweren Krankheit wieder auferstanden. Und sie dachte: Antonina Naumowna hat Olgas Krankheit auf sich genommen. Seit Tamara den orthodoxen Glauben angenommen hatte, waren für sie alle Regungen des Lebens, jede Schicksalswende nicht mehr zufällig, sondern erfüllt von einem Sinn, und zwar einem weisen und zweckmäßigen Sinn.
    Olgas Gedanken gingen in eine andere Richtung: Wäre sie damals mit Ilja mitgegangen, wer hätte dann ihre Mutter begraben? Doch jetzt, da die Eltern tot waren und Kostja verheiratet, könnte sie zu Ilja ziehen. Wie lange sie wohl noch warten musste, um mit Ilja vereint zu sein …
    Antoninas Schwester Valentina saß schüchtern ganz am Rand. Sie wirkte nicht unbedingt wie vom Dorf, aber doch etwas unbedarft. Sie lebte in Protwino, einem Wissenschaftsstädtchen hundert Kilometer von Moskau entfernt, und dort war sie keineswegs Putzfrau, wie man aus ihrem Äußeren hätte schließen können, sondern eine durchaus geachtete promovierte Biologin. Aber das wusste Olga nicht. Sie erinnerte sich, dass ihre Mutter die Tante nicht gemocht hatte und sogar spöttisch sagte, Valentina habe sich ihr Leben lang nur mit Schafen abgegeben. Das stimmte. Valentina hatte Veterinärmedizin studiert. Doch aus dem Mund ihrer älteren Schwester, der großen Funktionärin, klang das immer verächtlich.
    Valentina saß rechts von Olga und schaute die ganze Zeit nur auf ihren Teller. Dann wandte sie sich plötzlich ihrer Nichte zu und sagte:
    »Ich muss bald gehen, Oletschka. Ich übernachte heute hier in der Stadt, bei einer Freundin. Aber ich habe dir etwas mitgebracht. Etwas von unserer Familie …«
    Olga wunderte sich, stand aber auf und ging mit der Tante ins Zimmer der Mutter. Dort hatte Antonina ihr Leben lang ihren kurzen Schlaf gehalten und gearbeitet – ihre Reportagen über heroische Weberinnen, Spinnerinnen und Melkerinnen geschrieben, Vorträge und Reden verfasst, Anordnungen und Rügen. Einmal sogar einen Roman, für den sie beinahe den Stalinpreis bekommen hätte. Die uralte Schreibmaschine unter der Wachstuchhülle, die sie selbst liebevoll »die Märtyrerin« genannt hatte, stand wie ein kleiner Sarg mitten auf dem Schreibtisch. Eine Underwood. Daneben eine gusseiserne Garnitur mit einem muskulösen Arbeiter, eine Tolstoi-Büste und ein Foto von ihr selbst – die

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