Das gruene Zelt
ohne ihn begraben. Es sei denn, er war weit von Moskau entfernt gestorben. Ari sah Antonina in den Nachkriegsjahren ständig als Ehrenwache an Schriftstellersärgen, manchmal auch als Rednerin.
Als junger Bursche hatte er nicht ahnen können, wie viele Menschen er begraben würde. Ari liebte seine Verstorbenen. Er las auch nur tote Dichter. Solange die Schriftsteller noch lebten, kam er nie dazu, sie zu lesen, geschweige denn zu lieben. Außerdem offenbarte sich ihre wahre Größe erst beim Begräbnis.
Antonina zum Beispiel hatte sich nun als ein Nichts entpuppt. Auch die Trauergemeinde war nichtig, nur sechs Personen: ihre Tochter Olga, Kostja, der Enkel der Verstorbenen, mit Frau, eine Freundin der Tochter, eine Nachbarin aus dem Haus und die leibliche Schwester Valentina, die die Familie rund zehn Jahre nicht gesehen hatte. Die Tochter war zutiefst befriedigt: Sie hatte sich am Ende mit ihrer Mutter ausgesöhnt, hatte ihre Schuld bis auf die letzte Kopeke beglichen, und Antonina Naumowna war still gestorben, ohne besonders zu leiden, unter Morphium. Doch so etwas wie Liebe hatte es zwischen ihnen schon lange nicht mehr gegeben.
Ari litt an diesem Tag wohl am meisten. Eine so mickrige Beerdigung hatte er lange nicht erlebt. Natürlich wurde Antonina Naumowna nach dem üblichen Schriftstellerritual begraben, der Sarg wurde im Zentralen Schriftstellerhaus aufgebahrt, wo auch die richtigen Trauerfeiern stattfanden, mit tausend Leuten. Allerdings im Kleinen Saal, doch auch der blieb leer. Keine Freunde, keine hochgestellten Persönlichkeiten. Die neue Chefredakteurin der Zeitschrift konnte ihre Vorgängerin nicht ausstehen und hielt das Kollektiv von der Beerdigung fern, indem sie für diesen Tag eine Versammlung ansetzte. Sie schickte nur die alte Sekretärin hin, mit einem Kranz aus Tannengrün und weißen Bändern – »Vom Arbeitskollektiv«. Ari sprach selbst ein paar offizielle Worte, das konnte er seit langem: dass sie eine wahre Kommunistin und eine treue Leninistin gewesen sei. Und forderte die Anwesenden auf, von ihr Abschied zu nehmen.
Dann wurde der Sarg ins Donskoi-Krematorium gebracht. Die Redaktionssekretärin fuhr aus Altersgründen nicht mit. Der Sarg wurde auf ein Gestell gehoben; auf dieser Erhöhung wirkte Antonina Naumownas gräuliches Gesicht mit dem eingefallenen Mund und der vorstehenden Nase wie aus Pappe, und unter Musikbegleitung fuhr sie hinab, bis das Tor zur Unterwelt sich schloss.
Kostja hatte seine Mutter untergefasst und spürte durch den Mantel hindurch, wie dünn ihr Arm war, registrierte, wie klein sie war und wie nichtig die Zeit eines Menschenlebens, selbst wenn es so lange dauerte wie das seiner Großmutter. Und wie traurig das Begräbnis eines Menschen war, den niemand geliebt, niemand bedauert hatte …
Weggeworfen, wie einen alten Filzstiefel in den Müllschlucker, dachte Kostja bitter. Ihm war bewusst, dass auch er selbst seine Großmutter nicht geliebt hatte.
Nach dem Versenken des Sargs in die künstliche Hölle drückte Ari Olga und Kostja die Hand und sagte, wenn sie einen Antrag auf materielle Unterstützung stellen wollten, würde er ihnen helfen, diese zu erwirken. Die Urne müsse spätestens zwei Wochen nach der Einäscherung abgeholt werden.
Nein, lieber gleich in die Erde, dachte Kostja. So weiß man gar nicht, wo sie diese zwei Wochen lang ist, wohl in einer Art Gepäckaufbewahrung …
Olga lud alle nach Hause ein, um der Verstorbenen zu gedenken. Ihre Schwiegertochter Lena fuhr vom Krematorium nach Hause zu ihren kleinen Kindern. Ari war der Ansicht, dass seine Pflicht sich bis zum Ende des Abends erstreckte; er öffnete die Bustür und hielt sie den erschöpften Frauen auf. Kostja stieg als letzter ein. Er wollte sich neben seine Mutter setzen, aber sie hatte bereits neben ihrer unerwartet aufgetauchten Tante Platz genommen. Die Tante war jünger als Antonina, hatte aber ein ähnlich strenges Gesicht mit großer Nase. Ari schaute aus dem Fenster. Er hing seinen zahlreichen Erinnerungen nach.
Den Tisch hatte Olga schon vorm Aufbruch gedeckt. Der Körper der Verstorbenen war gleich nach ihrem Tod ins Leichenschauhaus gebracht worden, und Olga hatte ohne Hast gründlich aufgeräumt, saubergemacht und gelüftet. Doch auch nach drei Tagen drang der Medizingeruch noch durch Bohnerwachs und Möbelpolitur.
Sie setzten sich an den langen ovalen Tisch, den der General restauriert hatte. Olga legte die Hände auf die mit einem groben Leinentuch bedeckte
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