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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Verbannung.
    Sie war zehn Jahre älter als ich, ich bin 1915 geboren, auf diesem Foto gibt es mich noch nicht. Aber ich erinnere mich, dass sie mich oft gefüttert und angezogen hat. Ein gutes Mädchen«, wiederholte die Tante beharrlich.
    Valentina streichelte das Atelierfoto. Die Amateurfotos rollten sich wieder zusammen.
    »1920 wurde unser Vater, damals Priester der Kirche von Kosmodemjansk, verbannt.« Sie tippte mit dem Finger auf das Mädchen mit dem strengen Gesicht.
    »Ich erinnere mich kaum an meine Eltern. Das meiste weiß ich von Tante Katja. Unseren Vater habe ich zum letzten Mal gesehen, als er 1925 aus der Verbannung zurückkehrte. Mama war da schon tot. Tante Katja hat mich zu ihm gebracht.«
    »Was für eine Tante Katja?« Olga sah die Tante an und entdeckte plötzlich, dass sie keineswegs unbedarft und kein bisschen hässlich war. Sie war still und ruhig, und sie sprach sehr korrekt, fast schon überkorrekt.
    »Tante Katja, Mamas Schwester, Jekaterina Anissimowna Kamyschina, sie hat mich, die Jüngste, aufgenommen, als unsere Eltern verbannt wurden. Pjotr und Serafim waren schon große Jungen, sie haben sich sofort von den Eltern losgesagt und sind nicht mit in die Verbannung gegangen. Nikolai ist dem Vater in die Verbannung gefolgt, er hatte damals schon die Ausbildung am Priesterseminar absolviert und war Diakon in einem kleinen Dorf an der Wolga. Auf dem Foto trägt er einen Talar, da war er noch Seminarist. Er wurde zum Priester geweiht, war Geistlicher, er ist in den Lagern verschollen, ich weiß nicht, in welchem Jahr er umkam, ich weiß gar nichts über ihn. Tante Katja hatte den Kontakt zu ihm verloren. Mit den Eltern in die Verbannung gegangen sind die beiden Jüngsten, Andrej und Pantelejmon, beide sind gestorben.«
    »Und Mama?« Olga ahnte die Antwort bereits.
    »Antonina ist gleich nach den Brüdern fortgegangen, nach Astrachan. Mit fünfzehn Jahren. Pjotr und Serafim sind schon vor ihr nach Astrachan gezogen, und dort haben sie sich alle von ihrem Priester-Vater losgesagt. Sie haben an die Zeitung geschrieben, dass Lenin ihr Vater sei und die Partei ihre Mutter.«
    Vom Schreibtisch blickte das Mädchen in der Lederjacke sie an und bestätigte diese Worte.
    »Und was ist aus Großvater geworden?«
    »Fünf Jahre Verbannung ins Gebiet Archangelsk, dann durfte er zurück nach Kosmodemjansk. 1928 wurde er verhaftet, dann wieder entlassen, und 1934, da ist er verschwunden. Tante Katja konnte ihn nicht ausfindig machen. Tante Katja und ich sind schon 1937 zu deiner Mutter gegangen. Auf Knien haben wir sie angefleht, sich zu erkundigen, wenigstens in Erfahrung zu bringen, ob er noch lebt. Aber Antonina hat gesagt, sie sehe sich nicht veranlasst, sich zu erkundigen.«
    Jemand klopfte höflich an die halboffene Tür – Ari Lwowitsch schaute herein, um sich zu verabschieden. Im großen Zimmer am Tisch wurde leise geredet. Tamara sprach mit einer Nachbarin über die rätselhafte Krankheit, die Olga verlassen hatte und auf Antonina Naumowna übergegangen war. Soja, eine andere Nachbarin, fragte Kostja nach Ilja aus. Trotz aller nachbarschaftlichen Nähe antwortete Olga auf Fragen nach ihrem Exmann nämlich nicht.
    Olga dankte dem Bestatter. Er nickte respektvoll. Schon an der Tür, seine edle Pelzmütze in der Hand, verbeugte er sich weltmännisch und sagte würdevoll:
    »Zu Ihren Diensten, Olga Afanassjewna. Stets zu Ihren Diensten.«
    So ein hirnloser Idiot. Wer braucht schon seine Dienste, dachte Olga und ging zurück zu Valentina.
    Auf dem Weg durch den Flur rüstete sie sich, nun das Erwartbare zu hören: Verbannung, Verhaftungen, Verfolgungen, Erschießungen.
    Aber von nichts dergleichen sprach Tante Valentina. Sie strich die beiden blassen Fotos glatt – auf einem stand ein alter Mann in schlaff herunterhängendem Jackett vor einem Flechtzaun, auf dessen Spitzen zwei Tonkrüge hingen, und beim Anblick seines Gesichts stockte Olga der Atem. Auf dem anderen saß er im schwarzen Talar an einem Tisch, auf dem in der Mitte eine kleine weiße Pyramide aufragte und drei dunkle Eier auf einem Teller lagen.
    »Das war Ostern 1934. Wahrscheinlich beim Ostergottesdienst.«
    Sie saßen schweigend da. Dann wickelte Valentina die Fotos wieder in Zeitungspapier.
    »Oletschka, ich habe niemanden, dem ich das hinterlassen könnte. Du und dein Kostja, ihr seid alles, was von unserer Familie übrig ist. Ich weiß nichts über dich. Ich weiß nicht, vielleicht willst du diese Fotos nicht nehmen. Ich habe sie

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