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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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mein ganzes Leben aufbewahrt. Erst Katja, dann ich.«
    »Natürlich nehme ich sie, Tante Valentina. Ich danke Ihnen. Was für ein Albtraum!« Olga nahm das Päckchen aus den Greisinnenhänden, und die Tante hatte es auf einmal eilig.
    »Nun, es ist längst Zeit für mich. Ich muss noch nach Tjoply Stan.«
    »Tante Valentina, die älteren Brüder, was ist mit denen?«
    »Pjotr hat angefangen zu trinken, Serafim ist im Krieg verschollen. Pjotr hatte Familie, glaube ich, aber seine Frau hat ihn verlassen und die Tochter mitgenommen. Von Serafim weiß ich nicht, ob er jemanden hinterlassen hat.«
    »Eine unglaubliche Geschichte. Bitte kommen Sie uns doch mal besuchen. Ich wollte Ihnen noch ein paar von Mamas Sachen …« Sie verstummte, denn sie sah an Tante Valentinas Gesicht, dass sie jetzt unmöglich von den jugoslawischen Stiefeln anfangen konnte.
    »Ich rufe Sie an, ich rufe Sie an«, murmelte Olga, als sie die Tante zur Tür brachte, und ihr Kuss verfehlte die Wange der Tante und landete auf deren Strickmütze. »Wir sehen uns unbedingt wieder, und dann erzählen Sie mir alles, woran Sie sich erinnern.«
    »Ja, ja, natürlich, mein Kind. Aber sei nicht böse auf deine Mutter. Es waren schlimme Zeiten. Sehr schlimme. Alle waren ja Waisen. Jetzt geht es uns so gut …«
    Kostja stand hinter seiner Mutter und verstand nicht, warum sie plötzlich so schwach war und weinte, sie hatte sich doch diesen ganzen schweren Tag lang gut gehalten. Olga ging zurück ins Zimmer ihrer Mutter und breitete die dem Vergessen entrissenen Fotos erneut auf dem Tisch aus.
    Die Mutter, längst nur noch die welke Hülle eines Menschen, zusammengehalten von Hygienegewohnheiten und mechanischen Floskeln, war von ihnen gegangen, und an ihrer Stelle war plötzlich ein unbekannter Mann mit wunderschönem Gesicht aufgetaucht, der den Verrat seiner erwachsenen Kinder überlebt hatte, den Tod seiner Frau und seiner Jüngsten, das Gefängnis und so vieles mehr. Das unscharfe Foto mit dem Ostertisch löste bei Olga einen Tränenstrom aus. Sie ließ ihm freien Lauf, saß im Zimmer ihrer Mutter und durchlebte eine Art Operation. Wie ein Reis war sie unversehens auf den Familienbaum gepfropft worden, und dieser Baum, das waren Großvater Naum und all die Bärtigen mit den langen Mähnen, aus Dörfern und kleinen Städten, mehr oder weniger gelehrte Popen, ihre Frauen und Kinder, gute und weniger gute. Sie fand keine Worte, um sich selbst diese Erschütterung zu erklären. Und Ilja war nicht da, er hätte die richtigen Worte gesagt, die alles an seinen Platz rückten.
    Der O-Bus der Linie B bog mit klappernden Stangen bereits um die Ecke. Ari Lwowitsch legte einen Schritt zu – abends fuhren die Busse selten. Er hatte die heutige Verstorbene bereits vergessen. Einer der Sekretäre des Schriftstellerverbandes lag im Sterben. Ari hatte schon ein großes prachtvolles Begräbnis geplant, im Laufe der Woche wäre ein guter Termin, dann könnte er am Freitag auf die Datscha fahren. Er eilte nach Hause zu seiner jungen Frau. Vor zehn Jahren hatte er, frisch verwitwet, auf einer Beerdigung die wundervolle, zärtliche Klarotschka kennengelernt, sich verliebt und geheiratet; sie hatte ihm eine Tochter geboren, Emmotschka, und sein Leben war seitdem wie neu und so glücklich, dass es undenkbar schien, dass auch er einmal sterben musste. Er stand mit dem Tod schon so lange auf du und du, diente ihm auf Ehre und Gewissen – hatte er da nicht einen kleinen Bonus verdient?
    Vielleicht werde ich ja fünfundneunzig, wie Großvater. Warum denn nicht? Die Kinder von Vera, der Ältesten aus erster Ehe, sind schon erwachsen, bald kommen Urenkel. Und wenn ich fünfundneunzig werde, erlebe ich noch die Kinder von Emmotschka. Warum denn nicht? Gesundheitlich geht es mir Gott sei Dank gut, meine Arbeit könnte nicht besser sein – ich verdiene gut und genieße allgemeine Achtung. Und interessant ist sie, etwas für die Seele. Ja, hoffentlich stirbt dieser Sekretär – ein mieser Typ übrigens – nicht heute und nicht morgen, auch nicht am Montag, hoffentlich hält er durch bis Dienstag, dann könnte ich alles schön in Ruhe zum nächsten Freitag organisieren. Einschließlich Trauerfeier im Eichensaal mit hundert Gedecken.

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    Von Kindheit an empfand Olga es als beruhigend, dass die Menschen berechenbar waren. Sie wusste immer im Voraus, was ihre Freundin sagen würde, die Lehrerin oder ihre Mutter. Besonders ihre Mutter, Antonina Naumowna, hatte der

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