Das Gutachten

Mittagsschläfchen und hin und
wieder legt sich auch mal ein Patient oder eine Patientin darauf. Wo möchten
sie Platz nehmen, auf dem Stuhl oder auf dem Sofa?«
    Wortlos ging Sandra zum
Stuhl, setzte sich und blickte Dr. Renn erwartungsvoll an. »Geht es jetzt los?«
    »Wir sind doch schon
mittendrin.«
    Als Sandra nicht auf seine
Worte reagierte fuhr er fort. »Ich habe sie in den vergangenen viereinhalb
Minuten wieder ein bisschen mehr kennengelernt, wie sie denken, was sie fühlen.
Und nun machen wir da weiter, wo wir in der letzten Stunde aufgehört haben.
    Ich nehme doch an, sie
erinnern sich an das, was ich ihnen gesagt habe?«
    »Ja.« In den letzten
beiden Tagen hatte Sandra beinahe jeden Satz, jedes Wort der Therapiesitzung in
Gedanken unzählige Male wiederholt.
    »Meine erste Aufgabe wird
es sein, den Grad an Devotion bei ihnen herauszufinden.«
    »Devotion?«
    »Das ist die Art sexueller
Prägung, in der jemand Lust durch Hingabe, mitunter durch Erniedrigung
empfindet. Dabei kann es passieren, dass sich eine devote Person an den
dominanten Partner in selbstzerstörerischer Weise bindet, ihm verfällt.
    Devotion gibt es in
vielerlei Ausprägungen, von einer sehr leichten Neigung bis zur krankhaften
Obsession sind die Graustufen vielschichtig«, und dabei blickte er wieder auf
das Bild mit dem Olivenbaum, »sehr vielschichtig.«
    Dr. Renn ging wie in der
ersten Therapiestunde im Raum umher.
    »Sagt ihnen die Abkürzung
CMNF etwas?«
    Sandra schüttelte den
Kopf. »Nein, nie gehört.«
    Dr. Renn hielt inne. »Gut,
dann muss ich etwas weiter vorne anfangen. CMNF steht für ‚Clothed Male, Naked
oder Nuded Female‘, also ein angezogener Mann oder in der Mehrzahl angezogene
Männer und unbekleidete Damen. Das Ganze gibt es natürlich auch in der
umgekehrten Variante ‚Clothed Female, Naked Male‘.
    Dieses Prinzip beschreibt
eine Situation, die in der Regel von den Protagonisten herbeigeführt wird, um
eine besondere Form der sexuellen Stimulation zu erfahren. Dabei spielt das
Schamgefühl auf der einen, das Machtempfinden auf der anderen Seite eine ganz
wesentliche Rolle. Bei ‚CMNF‘-Situationen kommt es häufig gar nicht auf den
körperlichen Kontakt an, mitunter wird er durch Regeln streng untersagt.
Trotzdem ist allein die Konstellation der handelnden Personen anregend und
stimulierend.
    Warum, glauben sie, gehen
auch Menschen mit einem durchaus stark ausgeprägten Schamgefühl z. B. in eine
öffentliche Sauna?«
    Sandra zuckte mit den
Schultern: »Weil da alle nackt sind?«
    »Richtig, klar erkannt. In
dem Moment, in dem die Nacktheit nicht etwas Besonderes ist, verliert sie
gewissermaßen einen Großteil ihres Reizes. Als Einer unter Gleichen ist das
persönliche Unwohlsein durch das Fehlen der Kleidung deutlich weniger stark
ausgeprägt.
    Anders ist es nun bei
CMNF. Hier wird ganz bewusst ein Szenario aufgebaut, das evtl. vorhandene
Ängste schürt und den Männern gleichzeitig ein stärker ausgeprägtes
Machtbewusstsein gibt.
    Stellen sie sich einfach
mal nur folgende fiktive Situation vor: Ein einfacher Angestellter, der durch
seine niedrige Hierarchiestufe in der Firma im Büroalltag eher unbedeutend ist,
was ihm allerdings nicht gefällt, trifft durch irgendeinen Zufall alleine auf
seine unbekleidete Chefin. Natürlich gibt es Männer, denen das dann peinlich
ist und die sofort vor dieser Situation fliehen würden.
    Unser Angestellter flieht
nicht. Ihn störte es schon die ganze Zeit, dass seine wahren Qualitäten und
Leistungen für seinen Geschmack nicht deutlich genug wahrgenommen wurden. Und
mit einer Frau als Chefin tut er sich ohnehin insgeheim etwas schwer. Was
glauben sie, wie stark sein Selbstbewusstsein in diesem Moment wächst? Wie
mächtig er sich ganz unerwartet fühlt?«
    Sandra konnte ein Grinsen
nicht unterdrücken. Auch wenn die Situation an den Haaren herbei gezogen
wirkte, fand sie es ganz lustig. Aus irgendeinem Grund hatte sie kein Mitleid
mit der wahrscheinlich zickigen Chefin.
    »Sehen sie, das meine ich.
Wir lassen diese Geschichte einfach mal stehen, ich würde allerdings auch
vermuten, dass dies der richtige Zeitpunkt wäre, um eine Beförderung und
Gehaltserhöhung anzusprechen.
    Das ist allerdings nicht
mit dem CMNF zu vergleichen, was ich meine. Für mich geht es darum, wie ich
ihnen schon erklärt habe, das Maß an Devotion bei ihnen festzustellen.
    Und dabei hilft der von
mir entwickelte CMNF-Test: In dem Test wird durch eine langsame, aber
konsequente Steigerung