Das Hades Labyrinth (German Edition)
Neureuther stand vor ihm. Sie war in blaue Shorts und dem gleichen T-Shirt wie vorhin gekleidet. Ihre nackten Beine waren muskulös und leicht gebräunt. Früher einmal hätte Daniel diesen Beinen seine Aufmerksamkeit geschenkt, aber nun glitt sein Blick darüber, ohne hängen zu bleiben.
„Ah, Sie sind es“, sagte sie.
„Ja.“ Eine saublöde Antwort, aber er wusste nicht, wie er das Gespräch beginnen sollte, nachdem er sie zuvor so unfreundlich abblitzen ließ.
Ihre Augenbrauen hoben sich, als wären sie zwei braune Vögel, die davon fliegen wollten.
„Kann ich Ihnen doch helfen?“, fragte sie.
„Ich brauche einen Besen und eine Schaufel.“
„Sie selbst haben keinen Besen und eine Schaufel?“
„Nein.“ Warum musste diese Frau ihm ständig Fragen stellen?
„Das wird die Müller aber gar nicht gern hören. Wie haben Sie bisher Ihre Kehrwoche gemacht?“
Daniel hob beide Hände. „Geben Sie mir nun die Sachen oder nicht?“
„Na klar.“ Sie schmunzelte, verschwand kurz in der Küche und kam mit dem Gewünschten zurück.
„Danke.“ Daniel nahm ihr die Sachen aus der Hand.
„Wiederbringen“.
„Natürlich.“
Ihr helles Lachen folgte ihm die Treppe hinunter.
Während Daniel den Hauseingang reinigte, fragte er sich, warum es Menschen wie Jessica Neureuther gab, die permanent gut gelaunt waren und dann auch noch glaubten, ihre Laune wäre ansteckend. Die Frau war nett, aber ihre Fröhlichkeit ging Daniel jetzt schon auf die Nerven.
Das Haus, in dem er wohnte, bot nun das komplette Kontrastprogramm. Über ihm die alte Müller, eine Cholerikerin wie sie im Buch stand, mit einem farblosen Ehemann, der seit seiner vorgezogenen Rente nur eine Beschäftigung kannte – handwerkliche Arbeiten in seiner Wohnung.
Noch einen Stock weiter oben lebte eine Frau in seinem Alter, die anscheinend glaubte, dass Leben sei ein einziger Vergnügenspark für Menschen, die sich ihre Kindlichkeit erhalten hatten.
Und im Erdgeschoss haust der Glöckner von Notre Dame, dachte er bissig. Eine tolle Hausgemeinschaft. Er kippte die letzte Schaufel in den Mülleimer und wischte die verschmutzte Metallfläche im feuchten Gras ab.
Leise stieg er die Treppen hinauf. Er wollte Besen und Schaufel vor der Wohnungstür seiner Nachbarin ablegen und ihr später einen Zettel mit einem schlichten ‚Danke’ in den Briefkasten werfen.
Als er oben ankam, stand die Wohnungstür weit offen.
„Kommen Sie herein“, rief es von drinnen.
Daniel blieb unschlüssig stehen. Sie hatte ihn bemerkt, also konnte er nicht einfach wortlos verschwinden.
„Ich lege die Sachen hierher“, rief er zurück.
„Das werden Sie nicht tun“, erklang es energisch. „Ich lade Sie auf ein Glas Wein ein. Auf gute Nachbarschaft und so.“
„Danke, das ist nicht nötig.“ Er drehte sich um.
„Sie lassen mich warten.“
Diese Frau war unglaublich. Was zum Teufel sollte das wieder? Er wollte keinen Wein und er wollte keine seichte Unterhaltung.
„Ich warte immer noch.“
Daniel gab seinen Widerstand auf. Gut, ein Glas Wein. Er würde es herunterstürzen und dann wieder gehen. Kein Smalltalk. Er betrat den Flur.
„Ich bin hier.“
Er folgte der Stimme vorbei an Wänden, die mit holzgeschnitzten Masken übersät waren. Manche der Masken waren noch hässlicher als sein Gesicht. Vielleicht reagierte die Frau aus diesem Grund so gelassen auf sein Aussehen. Sie war den ganzen Tag von abscheulichen Fratzen umgeben. Außer den Masken hingen keine Bilder an den Wänden. Ein niedriger Telefontisch mit Rohrstuhl versperrte ihm den Weg, ansonsten gab es im Flur keine Möbel. Nicht einmal eine Garderobe, an der man seine Jacke aufhängen konnte. Als er um die Ecke bog, öffnete sich der Gang zu einer großen Küche. Sanftes Licht aus einer alten Porzellanlampe beleuchtete Küchenschränke aus hellem Holz und einen Tisch mit Stühlen, der aussah, als habe er schon zu Bismarcks Zeiten als Essplatz gedient. Von der Decke hingen Bündel wohlduftender Kräuter und Gewürze, die sich im Luftzug des offenen Fensters bewegten. Jessica Neureuther sah ihn an.
„Schön, dass Sie mich besuchen.“ Sie deutete auf einen Stuhl. „Nehmen Sie Platz.“
Daniel setzte sich unbeholfen. Sein künstliches Bein ließ sich erst nach einigen Verrenkungen unter dem niedrigen Tisch verstauen. Die Situation war ihm peinlich, aber Jessica Neureuther ließ nicht erkennen, dass seine Unbeholfenheit sie verlegen machte. Sie hielt zwei Weinflaschen hoch.
„Weiß
Weitere Kostenlose Bücher