Das Hades Labyrinth (German Edition)
oder Rot?“, fragte sie.
„Rot.“
„Tun Sie mir einen Gefallen und öffnen Sie die Flasche.“ Jessica reichte ihm den Korkenzieher.
Wenige Augenblicke später schenkte sie ihm ein. „Auf gute Nachbarschaft.“
„Ja, auf gute Nachbarschaft. Und danke für den Besen und die Schaufel.“
Sie winkte ab und beide tranken. Der rauchige Geschmack des herben Weins legte sich schwer auf Daniels Gaumen. Zunächst schmeckte ihm der italienische Chianti nicht, aber nach zwei weiteren kleinen Schlucken genoss er das Gefühl, wie der Wein seine Kehle hinabrann.
Ihre Augen suchten seinen Blick. Daniel erkannte, dass sie von graugrüner Farbe waren.
„Sind Sie heute aus dem Krankenhaus entlassen worden?“
Daniel senkte den Kopf und studierte die Kerben auf der Holzplatte des Esstischs.
„Ist Ihnen die Frage peinlich?“, hakte sie nach.
„Nein, ich komme nicht aus dem Krankenhaus. Ich war in einer psychiatrischen Klinik.“ Seine ehrliche Antwort überraschte ihn mehr als sie.
„Es war schlimm“, stellte sie leise fest.
„Nein, es war mehr wie ein Kuraufenthalt.“
„Das meinte ich nicht.“
Daniel hob den Kopf wieder an. „Darüber möchte ich nicht reden.“
„Gut, reden wir von etwas anderem. Darf ich Sie fragen, ob Sie aus der Gegend stammen?“
„Ich bin hier geboren.“
„Merkwürdig“, sagte sie. „Sie sprechen vollkommen akzentfrei. Ich hätte schwören können, dass Sie aus dem Norden stammen.“
Er lächelte ein wenig und die Narben in seinem Gesicht verschoben sich wie Puzzleteile auf der Suche nach dem richtigen Platz. „Das denken viele. Meine Eltern kommen nicht von hier. Sie sind nach dem Krieg aus dem Osten geflohen.“
„Dann haben wir etwas gemeinsam. Meine Eltern lebten bis zum Bau der Mauer in Berlin. Im Ostteil.“
Daniel trank einen weiteren Schluck Wein und beobachtete die Lichtreflexionen auf dem Glas. Kleine rote Punkte, wie Sterne am Nachthimmel.
„Worüber denken Sie nach?“, fragte Jessica.
Er sah sie an. „Muss man immer über etwas nachdenken?“
Sie lachte. „Nein, da haben Sie Recht. Ich nenne es ‚Das Schweigen des Geistes’, aber es gelingt mir nicht allzu oft. In meinem Kopf ist immer etwas los.“
„Was machen Sie beruflich?“
„Ich bin Sozialpädagogin. Hauptsächlich habe ich mit schwer erziehbaren Kindern und Jugendlichen zu tun.“
„Da gibt es gewisse Parallelen zu meinem Beruf. Viele Jugendliche nehmen Drogen heutzutage oder handeln damit.“
„Ja, ich weiß“, sagte sie ernst. „Es sind die Straßenkinder. Vernachlässigte Jugendliche aus sozial schwachen Gegenden, die ständig sehen, was sie haben könnten und es auf ehrliche Art und Weise nie erreichen werden.“
„Eine sehr einfache Betrachtungsweise, die alles erklären will, es aber nicht tut.“
„So?“
Jessica wirkte verärgert. Ihre Augen fixierten ihn. Er mochte das Gefühl nicht, wie sie ihn ansah.
Er trank sein Glas in einem Zug leer und stellte es ab. Er erhob sich umständlich. „Danke für den Wein. Ich muss jetzt gehen.“
Dann verließ er die Wohnung.
Daniel lag auf dem Rücken, mitten auf dem Parkettboden im Wohnzimmer und sah zur Zimmerdecke hinauf, über die in unregelmäßigen Abstände Lichtfetzen vorbeifahrender Autoscheinwerfer tanzten. Seine Gedanken irrten umher. Er dachte an den vergangenen Tag, das Erlebnis im Supermarkt und die Begegnung mit Jessica Neureuther. Sie war eine ungewöhnliche Frau. Ihre Art ihn anzublicken, so als gäbe es seine Hässlichkeit nicht, versetzte ihn in Erstaunen. In ihrer Nähe hatte er für einen Moment vergessen, wer er war und was er war, aber dieses Gefühl war ebenso schnell verflogen, wie es gekommen war. Daniel wusste nicht einmal, ob er seine neue Nachbarin sympathisch fand. Auf der einen Seite hatte sie ein offenes Wesen, auf der anderen empfand er sie als zu aufdringlich und zu direkt. Nun ja, sie war eine Nachbarin. Mehr nicht. Und er konnte ihr aus dem Weg gehen.
Etwas anderes war wesentlich wichtiger! Daniel erhob sich und ging hinüber in das kleine Arbeitszimmer, das einmal ein Abstellraum gewesen war, bevor er es mit Sarah tapeziert und gestrichen hatte. Jetzt befand sich darin ein Schreibtisch, auf dem sein Computer und ein Drucker standen. Daniel setzte sich auf den drehbaren Bürostuhl und schaltete das Gerät ein. Kurz darauf klickte er das Explorericon an und loggte sich ins Internet ein.
Es war an der Zeit, nach Adam zu suchen.
Adam saß auf einem abgeflachten Felsblock und
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