Das Hades Labyrinth (German Edition)
stellte die zweite Tüte ab und ging in die Hocke, als eine Stimme hinter ihm sagte: „Das waren halt noch Zeiten, als es die guten alten Plastiktragetaschen gab. Da sind wenigstens nur die Henkel abgerissen und man hatte noch eine Chance, das Drama zu vermeiden.“
Daniel war so überrascht, dass er sich umwandte, ohne an seine Entstellung zu denken. Vor ihm stand eine hübsche Frau Anfang Dreißig. Sie hatte ein schmales, energisch wirkendes Gesicht mit breitem Mund und klugen Augen. Ihre dunklen Haare waren kurz geschnitten und standen wild vom Kopf ab. Sie trug tarnfarbene Armeehosen, die mindestens zwei Nummern zu groß für sie waren. Dafür war das schwarze T-Shirt mindestens eine Größe zu klein. Ein winziger Diamant funkelte im Schein der Hausbeleuchtung auf ihrer linken Nasenseite. Zusätzlich glänzte ein Augenbrauen-Piercing im Licht.
Was Daniel in diesem Moment verblüffte, war die Tatsache, dass die Frau ihn nicht anstarrte. Sie sah ihm geradewegs in die Augen, als würde sie seine Hässlichkeit nicht wahrnehmen.
„Soll ich Ihnen helfen?“
„Nein... es geht schon. Danke“, sagte Daniel.
„Sie müssen Daniel Fischer sein“, stellte die Frau fest. „Mein Name ist Jessica Neureuther. Ich bin ihre Nachbarin aus dem zweiten Stock.“
Eine schmale Hand streckte sich ihm entgegen. Daniel schüttelte sie, ohne nachzudenken.
„Sie...“
Die Frau erriet seine Gedanken. „Woher ich weiß, wer Sie sind?“ Ein Lächeln trat in ihr Gesicht. „Nun allzu viele Menschen mit Ihrem Aussehen wohnen nicht in diesem Haus. Außerdem war Ihr Foto in allen Zeitungen. Ich meine das alte Bild vor ihrem Unfall. Frau Müller, die Vermieterin hat es mir gezeigt und gesagt, es wäre nur eine Frage der Zeit, bis Sie hier wieder wohnen würden. Ich habe die Artikel gelesen und dort war von Entstellungen die Rede. Nun weiß ich, was der Autor damit meinte.“
Daniel war vollkommen aus der Bahn geworfen. Da stand diese Frau vor ihm und plapperte in fast vergnügtem Tonfall über sein Äußeres, als handele es sich gerade mal um eine gebrochene Nase.
Ihr Zeigefinger deutete auf sein Gesicht. „Sieht wirklich schlimm aus. Kann man das richten?“
Ihre Offenheit machte Daniel sprachlos. Niemand, außer seinen Ärzten, hatte ihn bisher darauf angesprochen. Selbst Sarah hatte das Thema bei ihren Besuchen vermieden. Daniel spürte Zorn in sich aufwallen.
„Man kann es richten, muss man aber nicht“, knurrte er.
„He, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, sondern bloß ein bisschen Konversation machen.“
Daniel sah sie schweigend an, dann ging er auf die Knie und hob seinen Einkauf auf. Die beschädigten Sachen ließ er liegen. Er würde sie später zusammenkehren, zunächst wollte er dieser merkwürdigen Situation entfliehen.
Rote Turnschuhe mit den drei bekannten weißen Streifen traten in sein Blickfeld.
„Und Sie brauchen wirklich keine Hilfe?“
„Nein, danke.“ Verstand sie denn nicht, dass für ihn das Gespräch beendet war?
„Ich könnte...“
„Danke.“ Hart und kompromisslos kam das Wort aus seinem Mund.
„Dann noch einen schönen Abend“, sagte Jessica Neureuther vergnügt und verschwand im Hausgang.
Daniel erhob sich und schaute ihr hinterher.
Natürlich hatte Sarah auch die Schaufel und den Handbesen mitgenommen. Nun stand Daniel vor dem Problem, wie er die Sauerei vor der Haustür beseitigen sollte. Es gab zwei Möglichkeiten und beide behagten ihm nicht. Er konnte Frau Müller fragen, ob sie ihm aushalf, aber erstens mochte er sie nicht und zweitens würde sie ihn über die Geschehnisse vor 18 Monaten ausfragen, bis er ohnmächtig wurde. Die Frau kannte weder Taktgefühl noch Rücksichtsnahme. Außerdem schien sie mit ihrem Mann in den Urlaub gefahren zu sein, sein roter Sportwagen stand nicht auf dem Stellplatz. Blieb noch seine neue Nachbarin Jessica Neureuther. Nach ihrer Begegnung vor dem Haus war ihm zwar überhaupt nicht danach, sie um Hilfe zu bitten, aber was blieb ihm übrig. Der Hauseingang musste gesäubert werden, ansonsten bekam die alte Müller bei ihrer Rückkehr einen hysterischen Anfall.
Daniel wusch sich die verschmutzten Hände, dann ging er nach oben. Über dem Klingelschild war ein fröhliches Bild mit Haus, Sonne, Wiese und Kindern gemalt. Entweder Jessica Neureuther hatte ein Kind oder sie war keine besonders gute naive Malerin. Daniel klingelte. Ein melodischer Gong ertönte, kurz darauf vernahm er tappende Schritte. Die Tür öffnete sich. Jessica
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