Das hätt' ich vorher wissen müssen
nachfolgenden endlosen Brief über den freiherrlichen Lebenslauf. Er begann mit der gräflichen Mutter, die in erster Ehe mit ich weiß nicht mehr welchem französischen Adeligen verheiratet gewesen war, und endete mit dem Stammbaum seiner gegenwärtigen dritten oder vierten Gattin noch lange nicht. Geduldig las ich mich durch den halben Gotha, aber nach dem zweiten engbeschriebenen Briefbogen hatte ich genug. »Was soll denn das überhaupt?«
»Der Junge hat doch ‘n Rad ab, merkst du das nicht? Schmeiß den ganzen Quatsch in den Papierkorb, da gehört er hin!« Sascha sah das nicht so eng.
Nun gebietet es aber die Höflichkeit, daß man Briefe beantwortet. Das hatte mir Omi schon in frühester Kindheit eingebleut, wenn ich das längst überfällige Bedankemichschreiben an Tante Lotte immer wieder hinausgeschoben hatte. Jedes Jahr bekam ich von ihr zum Geburtstag handgestrickte Kniestrümpfe mit Zöpfchenmuster, die jämmerlich kratzten, sowie einen Zehnmarkschein. Auf die Strümpfe hätte ich gern verzichtet, und das Geld kam sowieso immer gleich aufs Sparbuch.
Ich setzte mich an die Maschine und tippte eine ebenso höfliche wie nichtssagende Antwort an den Freiherrn. Als Kuvert wählte ich einen langen Umschlag, sonst hätte ich die Adresse nicht draufgebracht – einschließlich »Königreich Bayern«. Das mußte offenbar sein, denn er hatte es auf seinem Absender dick unterstrichen. Für mich war die Sache damit erledigt.
Nicht so für den Freiherrn. Wenig später bekam ich einen zweiten, noch längeren Brief, dem jene Fotokopien amtlicher Zertifikate beilagen, die er beim erstenmal vergessen hatte, darunter eine Kurzfassung seines Lebenslaufes in Englisch, die in irgendeinem Nachschlagewerk veröffentlicht worden war. Ferner entdeckte ich die Todesanzeige einer schon recht betagten Prinzessin, offenbar eine Anverwandte, dann ein Konterfei des freiherrlichen Vaters aus den zwanziger Jahren sowie zwei vergilbte Fotos einer bläßlichen Dame im Charleston-Kleid, vermutlich die Gattin des Jugendbildnisses.
Der Begleitbrief umfaßte diesmal vier engzeilige Schreibmaschinenseiten und ergänzte den im letzten Schreiben nur unvollständig aufgelisteten Stammbaum einschließlich der in allen adeligen Familien vorkommenden Mesalliancen.
Diesmal befolgte ich Saschas Rat und warf den ganzen Wust von Papieren in den Mülleimer, auch den privat-persönlichen (rot unterstrichen!) Brief an die Wg. Frau Sanders.
Wenn ich nun glaubte, den freiherrlichen Schreiber aufgrund meines Schweigens düpiert zu haben, so hatte ich mich geirrt. Nach geraumer Zeit bekam ich einen weiteren Brief, diesmal mit einem neueren Foto des Herrn und dem noch fehlenden Lebenslauf seines Sohnes, der gerade in einem Nobelinternat sein Einser-Abitur gebaut und auf einer Bundeswehruniversität – »wie es sich gehört!« – sein Studium angetreten hatte.
Nun langte es mir wirklich. Ich setzte mich hin und verfaßte folgende Antwort:
Sehr geehrter Herr Dr. von…
Dank Ihrer diversen Fotokopien sowie des ausführlichen Lebenslaufes einschließlich Ahnentafel weiß ich nun, daß Sie zumindest mit dem halben Gotha verwandt und mit der anderen Hälfte entfernt verschwägert sind, aber die Aufzählung der diversen Seitenlinien mütterlicher- sowie väterlicherseits samt der eingebrachten adeligen Namen macht es mir zugegebenermaßen ziemlich schwer, die korrekte Anrede für Sie zu finden. In derart erlauchten Kreisen pflege ich mich im allgemeinen nicht zu bewegen, und da zu meiner Internatszeit die Monarchie in Deutschland schon abgeschafft war, ist die höfische Etikette während des allgemeinen Benimmunterrichts wohl zu kurz gekommen. Soviel ich weiß, gibt es das Königreich Bayern nicht mehr.
Daß Ihr Herr Sohn die in ihn gesetzten Erwartungen zu erfüllen gedenkt – wie es sich gehört! –, freut mich für Sie. Zweifellos herrscht auf den bundeswehreigenen Universitäten mehr Zucht und Ordnung als auf den anarchistisch angehauchten freien Unis.
Im übrigen muß ich Sie korrigieren: Mein naturverbundener Ältester hatte bisher noch keine Gelegenheit, Ihre Vorstellungen eines Gartenbauarchitekten in die Realität umzusetzen. Parkanlagen im Stile von Versailles sind nicht mehr gefragt. Statt dessen legt er Golfplätze an und ganz profane Gärten für Seniorenheime und Wohnkomplexe. Einen Orden wird er dafür nie bekommen, aber es gibt ja auch keinen König mehr, der ihm einen verleihen könnte. Ich habe auch nicht den Eindruck, als ob mein
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