Das hätt' ich vorher wissen müssen
vergessen hatte. »Hol schnell zwei Pakete Henko, aber beeil dich, Kind, die machen gleich zu!«
Auch das Kino existierte nicht mehr, es hatte einem Supermarkt weichen müssen. Dabei war es richtig vornehm gewesen mit seinen Samtsitzen und den rot ausgeschlagenen Logen. Siebenmal hatte ich dort drinnen »Quax, der Bruchpilot« gesehen und fünfmal »Der große König«, die beiden einzigen Filme, in die man auch unter zwölf Jahren hineindurfte.
Aus dem Bäckerladen duftete es noch genauso verführerisch nach Liebesknochen wie damals, als man Fett- und Zuckermarken dafür abgeben mußte und sich eine mit künstlicher Schlagcreme gefüllte zähe Masse einhandelte. Trotzdem hat sie mir besser geschmeckt als alle Eclairs zusammen, die ich seitdem gegessen habe.
Das Geschäft, mit dessen Überleben ich am wenigsten gerechnet hätte, gab es aber immer noch. Sogar der Namenszug »Sakautzky« prangte in seiner ursprünglichen Form über dem Schaufenster, nur Posamentierwaren schien man nicht mehr zu verkaufen. Aber wer braucht denn heute noch diese große Auswahl an Knöpfen, Schleifen, Litzen und Kordeln, die mich in meiner Kindheit so fasziniert hatte? Heute werden Kinderkleider per Katalog gekauft oder im Warenhaus, und damit die lieben Kleinen, für die die Sachen ja bestimmt sind, nicht stören, dürfen sie in der Zwischenzeit für dreißig Pfennig auf dem automatischen Kamel reiten.
Wenn ich heute daran denke, wieviel Geduld Omi immer aufgebracht hatte, bis ich mich für die silbernen Knöpfe entschieden hatte, obwohl die hellblauen zu dem selbstgenähten Sonntagskleid viel besser gepaßt hätten, dann kann ich sie im nachhinein nur bewundern. Dabei hatte sie bestimmt nie etwas von Kinderpsychologie gehört.
Fast hatte ich meinen Rundgang beendet, als ich das Schaufenster von Kaffee-Otto passierte. Den gab es also auch noch! Hier hatten wir alles eingekauft, was nach Omis Terminologie unter den Begriff »saubere Lebensmittel« fielalso Zucker, Reis, Grieß und so weiter, nur hatte es diese Dinge damals noch nicht abgepackt gegeben, sie hatten sich vielmehr in großen hölzernen Schubkästen befunden und waren je nach Bedarf abgewogen worden. Bevor wir das Geschäft verließen, hatte ich jedesmal mein Betthupferl geschenkt bekommen, das mir Herr Otto mit einer kleinen silbernen Zange über den Ladentisch gereicht hatte. »Heute mal wieder ein Pfefferminzplätzchen?«
Verstohlen lugte ich durch die Scheibe. Bis auf eine einzelne Dame war, der Laden leer, aber dort neben der Kasse stand doch tatsächlich… Ich gab mir einen Ruck und ging hinein. »Bitte zweihundert Gramm Pfefferminztaler, und dann möchte die kleine Evelyn noch ihr Betthupferl.«
Wie vom Donner gerührt drehte sich Herr Otto um. Einen Augenblick zögerte er, dann kam er mit ausgestreckten Händen auf mich zu. »Auf der Straße wäre ich glatt an Ihnen vorbeigelaufen. aber jetzt erkenne ich Sie natürlich wieder. Wie nett, daß Sie hereinschauen. Wie geht es Ihnen denn?«
Ein paar Minuten lang tauschten wir Erinnerungen aus, dann mußte ich mich verabschieden. Es war kurz vor fünf.
»Wir sehen uns noch, ich komme nachher zur Buchhandlung rüber. Mein Exemplar von den »Pellkartoffeln« ist zwar schon ziemlich zerlesen, weil ich es immer wieder verliehen habe, aber Sie schreiben mir doch trotzdem noch was rein, nicht wahr?« Lachend schüttelte er den Kopf. »Wissen Sie eigentlich, daß Sie wochenlang das Gesprächsthema hier in der Ladenstraße gewesen sind?«
Das wußte ich nicht, und bei dem Gedanken daran war mir gar nicht sehr wohl. Immerhin war ich einigen Leuten ganz gehörig auf den Schlips getreten. Was sollte ich bloß machen, wenn mich einer von denen in aller Öffentlichkeit zusammenstauchte? Mich verteidigen? Zurückbrüllen?
»Wir passen schon auf«, sagte Frau Maibach, aber erst nachdem sich Herr Löffelhardt neben der Tür aufgebaut hatte, war ich einigermaßen beruhigt.
Punkt fünf Uhr nahm ich an meinem Tischchen Platz. Neben dem üblichen Sortiment an Kugelschreibern und Filzstiften stand sogar ein Aschenbecher, ein in Buchhandlungen verpöntes Requisit, das ich vermutlich Frau Maibach zu verdanken hatte. In den ersten Minuten tat sich gar nichts. Ab und zu sah ich hinter der Schaufensterscheibe eine plattgedrückte Nase, einmal öffnete sich auch die Tür einen Spalt, wurde aber sofort wieder zugezogen, als der Kunde unsere erwartungsvollen Gesichter sah.
»Die boykottieren mich!«
»Ach wo«, sagte Herr Holzer, »es
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