Das hätt' ich vorher wissen müssen
will bloß niemand den Anfang machen.«
Also warteten wir weiter. Noch mal fünf Minuten. Dann endlich klingelte das Glöckchen, und ein etwa zehnjähriges Mädchen steuerte geradewegs auf mich zu. »Ich möchte ein Buch von Ihnen für meine Mami zum Muttertag.« Aus der zusammengeballten Faust fielen ein Zwanzigmarkschein und etwas Kleingeld auf den Tisch.
»Das reicht nicht ganz«, bedauerte die Verkäuferin, »da fehlen noch sieben Mark. Am besten holst du den Rest und kommst noch einmal wieder. Frau Sanders bleibt noch ein Weilchen hier.«
»Mehr habe ich aber nicht.« Enttäuscht sammelte die Kleine ihre Münzen wieder ein. Ihr trauriger Blick ging mir durch und durch.
»Weißt du was«, sagte ich spontan, »dieses Buch hier ist ein bißchen dünner als die anderen, deshalb kostet es auch nicht so viel. Da bleibt sogar noch eine Mark übrig.«
Selten habe ich Kinderaugen so plötzlich aufstrahlen sehen. »Schreiben Sie mir auch was rein?«
»Natürlich. Was soll ich denn schreiben?«
Sie überlegte kurz.
»Für die beste Mutti der Welt.«
Hoffentlich weiß die beste Mutti der Welt auch, daß sie die beste Tochter der Welt hat. Als sie selig abmarschiert war, gab ich der Verkäuferin den Differenzbetrag und hoffte nur, diese kleine Kundin möge nicht die einzige bleiben. Die Sache wurde langsam peinlich. Da hockt man auf seinem Stühlchen, rundherum die aufgetürmten Bücher, für die sich kein Mensch zu interessieren scheint, der Buchhändler täuscht Geschäftigkeit vor und blättert in irgendwelchen Listen, die Verkäuferin fummelt mit dem Staubtuch im Regal, und die Abgesandten des Verlags überbieten sich in Beispielen, wann und wo es viel prominenteren Autoren so ähnlich ergangen sei, denn da sei überhaupt niemand gekommen.
Doch plötzlich ging es los. Zwei spätmittelalterliche Damen stürmten herein, umhalsten mich, eine setzte ihre Brille auf, musterte mich gründlich, um dann festzustellen, daß ich mich ja kaum verändert habe. »Ja, Äwweliiinchen, jetzt bist du richtig berühmt geworden! Unsere ganzen Bekannten beneiden uns, weil wir dich so gut kennen!«
Leider war das kein Anhaltspunkt. Eine ganze Menge kannte mich, immerhin war ich rund um die Ladenstraße aufgewachsen. »Tut mir leid, aber im Moment weiß ich wirklich nicht…«
»Wir sind die beiden Schröder-Zwillinge, erinnerst du dich nicht? Du hast doch immer unseren Mops spazierengeführt.« Sie seufzte. »Der ist ja nun auch lange tot. Jetzt haben wir schon den dritten, ein Weibchen diesmal, Felicitas heißt es.«
Ob es wohl genauso verfettet war wie dieses watschelnde Tönnchen, mit dem ich seinerzeit hatte herumziehen müssen?
Spätestens am dritten Baum war das Vieh keuchend stehengeblieben. Gehaßt hatte ich dieses Gassi gehen, aber die beiden Schwestern waren Nichtraucherinnen gewesen und hatten meiner Mutter die monatliche Zigarettenration spendiert. Von einer intensiveren Bekanntschaft konnte also gar keine Rede sein, trotzdem schrieb ich etwas von »alten Freunden« in das mitgebrachte Buch und sah erleichtert hinterher, als die beiden heftig winkend abzogen.
Der nächste gute Bekannte war ein Herr mit Brille, wesentlich jünger als ich. Er mußte damals noch in den Windeln gelegen haben. »Ich bin Bernie.«
Aha. Nur – wer war Bernie? »Würden Sie mir ein bißchen auf die Sprünge helfen?«
»Bernie Wittberger. Wir haben im Nebenhaus gewohnt. Meine Mutter wohnt heute noch da.«
Ja natürlich, Bernie! Jetzt erinnerte ich mich an das wenige Monate alte Baby, das immer gerade dann in seinem Kinderwagen auf dem Balkon schlief, wenn wir hinten im Gärtchen herumtobten. Die ewig gleichen Dialoge habe ich noch heute im Ohr.
»Könnt ihr nicht woanders spielen?« brüllte Frau Wittberger.
»Kann der nicht woanders pennen?« brüllte Maugi zurück, worauf Bernie zu schreien anfing und vom Balkon entfernt wurde.
Es kribbelte mir in den Fingern, die Intensität unserer Bekanntschaft durch eine entsprechende Bemerkung hervorzuheben, aber dann schrieb ich doch nur eine allgemein gehaltene Floskel, womit Bernie voll zufrieden war.
Jetzt drängelten sich die Menschen schon um den Tisch. Ich schüttelte Hände, von denen ich oft nicht wußte, zu wem sie eigentlich gehörten, erfuhr vom Ableben offenbar bekannter Personen, an die ich mich beim besten Willen nicht erinnern konnte (»Aber Sie müssen doch den alten Herrn Regierungsrat gekannt haben, der jeden Morgen die Brötchen geholt hat! Zweiundneunzig ist er geworden,
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