Das Hagebutten-Mädchen
ums Leben kam, da hatte dieses Verhalten eine ganze Woche angehalten. Saufen und schlafen. Und vor zwei Jahren, da war es genauso gewesen, sieben Tage lang Lethargie, nur hatte sie damals den Grund für seine Frustration nicht gekannt.
Kai war tot. Astrid befürchtete, dass Gerrit für diesen Schlag länger als sieben Tage benötigte.
Eine der vielen unausgesprochenen Sachen zwischen Astrid und ihrem Mann war das Verhältnis zwischen den Männern. Astrid hatte sich nie getraut, direkt danach zu fragen. Wenn er ihn nun mag, hatte sie immer gedacht. Wenn er ihn nun mehr mag als mich? Warum zieht er sich um, wenn er mit Michel zu Kai und Henner geht? Warum wird er verlegen und schweigt, wenn er dann wieder nach Hause kommt? Und warum, warum nur will er nichts mehr von mir wissen?
Astrid wollte ihn nicht wecken. Leise schlich sie mit dem Instrument zum Kleiderschrank, öffnete die Tür und wuchtete das schwere Akkordeon in eines der Wäschefächer, schob es bis zur Rückwand und legte einen Stapel Schürzen davor. Hier würde er nie nachschauen. Selbst wenn er ab heute wieder beschließen sollte, ins Ehebett zurückzukehren, würde er nicht in ihren Sachen kramen. Und lang sollte dieses mächtige Ungetüm von Instrument auch nicht in ihrem Haus verweilen. Lieber nicht. Astrid kannte ihren Bruder und sie wusste, dass diese Geschichte irgendwie nicht ganz sauber war. Das Ding in ihrem Schrank war eine Ausnähme, die nicht länger als eine Woche anhalten würde, ganz sicher nicht…
»Astrid«, murmelte Gerrit und sie zuckte zusammen. Sie drehte sich um und sah ihn mit schläfrigem Blick in ihrem Bett sitzen, seine rotblonden Haare waren zerzaust und das Kissen hatte rote Streifen auf seinem Gesicht hinterlassen. Ihr Mann hatte beide Arme nach ihr ausgestreckt wie ein kleiner Junge, der getröstet werden wollte. Hatte er gesehen, wie sie das Instrument verschwinden ließ?
»Astrid, ich bin so allein!«, jammerte er. »Nimm mich in den Arm. Bitte! Tröste mich!«
Ich halte das nicht aus, dachte Astrid. Noch ein Mann mit Tränen in den Augen. Noch ein Mann, den ich liebe, den ich trotz allem, was geschehen ist, noch immer liebe.
Sie ging zum Bett, setzte sich auf die Kante, nahm seine schlaffen Arme und legte sie um ihren Körper. Oh, mein Gott, wie warm er war und wie gut er roch, trotz des Alkohols, der seinen Atem sauer durchsetzte. Sie strich mit ihrer Nase durch sein Haar, so wie man es bei Neugeborenen macht, weil man den Menschenduft an dieser Stelle so intensiv einatmen kann. Dann legte sie ihre Wangen auf seine Ohren, hauchte in seinen Nacken und schließlich presste sie ihre Lippen auf seinen Mund und küsste ihn. Auf einmal spürte sie Leben in seinen Händen. Er griff nach ihr, fasste in ihr Haar und umspannte ihren Rücken mit seinen kräftigen Armen. Sie holte tief Luft. Endlich war er wieder bei ihr.
Sie ließ sich auf ihn fallen und krallte sich am Laken unter ihm fest. Er war ihr Mann. Sie wollte sich fallen lassen. Doch es fühlte sich anders an, als sie dachte. Sie hatte sich so lange nach Gerrits Nähe gesehnt und nun war es widerlich. Und es ging ganz schnell. Wie eine flüchtige Umarmung. Ihre Gedanken waren ganz woanders, sie sah mehr seine Bewegungen unter ihr, als dass sie sie spürte. Es war, als richte sie nur eine Kamera auf ihn, um ihn beim Sex zu filmen. Sie selbst war gar nicht dabei. Sie war unbeteiligt und meilenweit von seinem Körper entfernt. Die ganze Zeit fragte sie sich, ob es das nun sei. Ob sie diese Art von Zuwendung wirklich vermisst hatte. Bis er fertig war, dachte sie die ganze Zeit darüber nach, was ihr alles viel mehr Vergnügen bereiten würde als dieser schnelle, emotionslose Akt. Und ihr fielen eine Menge Dinge ein, die ihr mehr Befriedigung verschafften: Im Garten sitzen und lesen, mit Michel ein Eis essen gehen, strahlend weiße, duftende Bettwäsche bei Sonnenschein an die Leine hängen. Gerrit hielt dabei die Augen geschlossen und sie wollte sich lieber nicht den Kopf darüber zerbrechen, an wen er wohl gerade dachte. Dann war es vorbei, und Astrid konnte an seinen regelmäßigen Atemzügen erkennen, dass er sofort eingeschlafen war oder zumindest den Eindruck erwecken wollte. Sein Schnaufen verstärkte den schalen Nachgeschmack, den der unerwartete Kontakt mit ihrem Mann hinterlassen hatte.
Ausgerechnet heute, ausgerechnet an Kais Todestag und in nicht mehr ganz zurechnungsfähigem Zustand war es passiert. Alles sprach dafür, dass sie Gerrit für ein paar
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