Das Hagebutten-Mädchen
Minuten nur als Trostpflaster gedient hatte.
Es tat weh.
Aber es war auch gut, schließlich war er endlich wieder in ihrem Bett gelandet. Nun jedoch wollte sie ihn nie wieder bei sich haben. Konnte sie ihn rausschmeißen? Einfach vor die Tür setzen?
Astrid richtete sich im Bett auf, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und löste die Spange in ihrer zerwühlten Frisur.
Damals, als Henner und Kai ihr zum ersten Mal die Illusionen von einem perfekten Leben aus dem Kopf getrieben hatten, hatte sie nicht auch am Ende auf sich selbst vertraut und schließlich doch einen Neuanfang zustande gebracht?
Sollten ihre Freundinnen doch aus allen Wolken fallen, sich die Augen reiben und die Mäuler zerreißen!
Der Junge, na ja, das war schlimm, aber was nutzte Michel eine nach außen intakte Familie, wenn die Mutter innerlich vor die Hunde ging? Sie hatte ihm zuliebe eine Scheinwelt aufgebaut und dabei war das wirkliche Leben wie auf einem Teller an ihr vorbeigetragen worden, ohne dass sie ein Sahnestück davon abbekommen hatte.
Das Haus gehörte ihr, den Jungen würde Gerrit sicher auch nicht von ihr losreißen und ein leeres Bett, in dem man niemanden mehr erwartete, war nicht ganz so groß. Wahrscheinlich war Gerrit sogar froh, wenn er endlich sein Leben so führen konnte, wie er es wollte: ohne einen Sohn an den Hacken, ohne Verantwortung, ohne seine Neigungen immer verstecken zu müssen. Einige Menschen mochten es vielleicht wirklich als etwas Natürliches tolerieren, Astrid würde dies niemals können. Sie war sich bewusst, dass ihre Abneigung gegen Homosexualität extrem war, dass dieser Ekel etwas mit dem Erlebnis von damals zu tun hatte, als sie die beiden im Bett erwischt hatte. Sie würde dieses Bild von Kai und ihrem Bruder niemals loswerden. In einer großen Stadt war es vielleicht einfacher für Gerrit, dieses so genannte Coming Out zu haben. Und es war dann nicht mehr ihr Problem. Nicht mehr ihre Blamage. Endlich nicht mehr.
Der neue Gedanke erfüllte sie mit einem so aufregenden Kribbeln, dass ihr sogar die Flasche Champagner aus dem Keller in den Sinn kam. Mit wem konnte sie über ihre Pläne sprechen? Ob Seike zu Hause war? Ihre beste Freundin würde sie sicher verstehen und sie vielleicht sogar zu ihrem Entschluss beglückwünschen.
Astrid schlängelte sich aus dem Bett. Im großen Spiegel an der Tür konnte sie sich betrachten: ihren flachen Bauch, dem man nicht ansah, dass er bereits ein Kind ausgetragen hatte. Die kleinen, festen Brüste und die schulterlangen, vollen Locken ließen sie zehn Jahre jünger aussehen. In diesem Moment fühlte sie sich auch wirklich nicht älter als dreißig. Ihr Leben war, weiß Gott, noch nicht zu Ende.
Sie legte sich den weichen Bademantel über die Schultern. Eigentlich wollte sie sofort ans Telefon, sofort ihre Freundin benachrichtigen, dass sie einen Entschluss gefasst hatte. Doch der fremd gewordene Geruch ihres Mannes klebte unangenehm auf ihrer Haut und sie sehnte sich nach einer warmen, besser heißen, ausgiebigen Dusche.
Samstag, 20. März, 15.24 Uhr
U nd tatsächlich: Auf einmal stand er da. Der Zeuge.
Als Wencke und er vorhin in das winzige Polizeibüro zurückgekehrt waren, da hatte Wencke noch gesagt:
»Sanders, jetzt müsste die Tür aufgehen und die Person erscheinen, die uns weiterhilft!«
Und kaum hatten sie den Rest Kaffee aus der Kanne in die Becher geschüttet, da hatte es tatsächlich geklopft und ein fremder Mann hatte den Raum betreten. Er war knapp fünfzig vielleicht, gut gekleidet, groß und stattlich, sogar mit Hut und Mantel. Er sah aus, wie man sich weitläufig einen wichtigen Informanten vorzustellen hatte. Entschieden setzte er sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, auf dem zuvor die ganzen Nieten gesessen hatten. Nach einem Räuspern begann er mit seiner Aussage.
Und dieser Tjark Bonnhofen, Immobilienmakler aus Norderney und Mitglied der »Döntje-Singer«, erwies sich schon nach seinen ersten Sätzen als nützlicher Zeuge. Er war sachlich, er war allem Anschein nach unvoreingenommen und er hatte am gestrigen Abend mit Kai Minnert gesprochen, kurz bevor dieser die Veranstaltung verlassen hatte.
Es war für Sanders eine Wohltat, nach all dem Geschwafel des Vormittags diese umfangreiche Zeugenaussage zu Protokoll zu nehmen.
»Ich lese Ihnen nun vor, was ich von unserem Gespräch aufgeschrieben habe. Wenn Sie mit dem Inhalt einverstanden sind, bitte ich Sie, die Aussage zu unterschreiben«, sagte Axel Sanders und zog das frisch
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