Das Hagebutten-Mädchen
lang war Silvester jetzt her?
Samstag, 20. März, 16.22 Uhr
G errit schlief noch immer. Astrid betrachtete ihn nur kurz und widerwillig, als sie aus ihrem Schrank den Hausanzug holte. Bequemer Fleecestoff, sie wollte heute auf keinen Fall mehr vor die Tür gehen. All diese Blicke von den Leuten, die sie in Verbindung brachten mit dem toten Kai Minnert, konnte sie sich sparen. Die Hose mit dem Gummibund, der weite Pullover, die nassen Haare offen auf den Schultern, sie würde zu Hause bleiben und fernsehen.
Doch zuerst ging Astrid in den Flur. Die Borkumer Gäste waren schon heute abgereist, nachdem das Inseltreffen wegen des Mordes vorzeitig abgebrochen worden war, deshalb konnte sie ungeniert im Jogginganzug durch das Haus gehen. Astrid griff das Telefon und wählte die Nummer ihrer Freundin. Endlich habe ich einmal etwas zu erzählen, dachte Astrid. Seike konnte immer nette Geschichten von sich geben, von einem One-Night-Stand mit dem neuen Inselpolizisten zum Beispiel, von dem heftigen Flirts bei der Volkstanzgruppe, von den ganzen aufregenden Leben einer unabhängigen Frau. Nun war sie an der Reihe.
»Ja?«, meldete sich die Stimme ihrer Freundin.
Astrid holte tief Luft. »Was würdest du dazu sagen, wenn ich mich von Gerrit trenne?«
Seike antwortete nicht, was sehr ungewöhnlich war.
»Fändest du es schlimm? Ich meine, ich habe es dir noch nie so direkt erzählt, dass unsere Ehe eigentlich keine richtige mehr ist. Aber geahnt hast du es doch, oder?«
»Mmh…«, war das Einzige, was Astrid vom anderen Ende der Leitung mitbekam.
Seltsam, dass sie so einsilbig ist, dachte Astrid und begann ein wenig zu frösteln, da ein kühler Windzug durch den Flur wehte. Ob Michel schon vom Spielen heimkam? Die Verandatür muss offen sein, sonst würde es hier nicht so ziehen.
»Meinst du, ich sollte es wegen des Jungen nicht tun? Seike, aber zu ziehst deinen Paul auch alleine groß und hast die Sache ganz gut im Griff.« Astrid ärgerte sich, dass sie jetzt, wo der Plan noch frisch war, bereits anfing, sich für ihr Verhalten zu rechtfertigen. »Seike, sag doch mal was.« Die Flurtür zum Wohnzimmer öffnete sich, doch Astrid konnte gegen das Licht nicht erkennen, wer da zu ihr in die Diele trat. Sie wusste nur, dass es nicht Michel war.
Endlich begann Seike zu reden. »Gut, liebe Astrid, wenn du meine Meinung wirklich hören willst, dann werde ich sie dir erzählen. Es kann aber sein, dass dir meine Worte nicht gerade in den Kram passen.«
Eine kräftige Männerhand legte sich über Astrids Finger und zwang sie, den Telefonhörer sinken zu lassen.
»Astrid? Willst du es jetzt wissen, oder nicht?«, hörte sie die Stimme ihrer Freundin.
»Du wirst jetzt das Gespräch beenden, meine Liebe«, raunte ihr eine tiefe, vertraute Stimme ins Ohr und Astrid hob den Hörer wieder an.
»Tut mir Leid, ich habe jetzt keine Zeit mehr, ähm…
die Gäste sind da, verstehst du?«
Und dann legte Henner schnell das Telefon auf, die andere Hand presste er auf ihren Mund, kräftig und fest, sodass sie vor lauter Panik einen kurzen Moment vergaß, durch die Nase zu atmen. Mein Gott, was wollte er von ihr?
Vorhin war doch noch alles in Ordnung gewesen, was war passiert?
Samstag, 20. März, 16.33 Uhr
N u hörn Se aber ma auf, jung Wicht, verarschen kann ich mich wohl noch selba!«
Wencke hatte große Lust, sich die Ohren zuzuhalten. Seit sie eigenmächtig die Frisia IX gekapert und die dort schon gemütlich an den schmalen Tischen verweilenden Passagiere mit ihrer Hiobsbotschaft überfallen hatte, musste sie die lautesten Beschimpfungen über sich ergehen lassen. Und die letzte eben, schnippisch aus dem Munde einer drallen Borkumerin entsprungen, war wirklich noch harmlos im Vergleich zu den plumpen Beleidigungen, die ein Wangerooger Posaunist von sich gegeben hatte. Wencke war keine Freundin von kratzenden, schlecht sitzenden Dienstuniformen, doch in diesem Moment wünschte sie sich ihre alte grüne Polyesterjacke herbei, die sie damals auf Streife in Worpswede getragen hatte. Vor ihrem Aufstieg zur Mordkommission Aurich. So ein offiziell wirkendes und idiotensicher erkennbares Kleidungsstück war oft ein Schutzschild gegen respektlose Menschen, besonders wenn man klein und, wie ihr Kollege Britzke immer meinte, niedlich aussah wie sie. Da nahm Wencke lieber ein paar zielgerichtete »Bullen«-Rufe in Kauf, als zu reden und zu handeln und zu bitten, ohne dass irgendeine Sau einen ernst nahm.
Gott sei Dank war Sanders nach
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