Das Hagebutten-Mädchen
er ein wenig beleidigt Wenckes seit einigen Minuten unberührtes Glas betrachtete, prostete sie ihm ein weiteres Mal zu, um das Gespräch gerade an dieser entscheidenden Stelle nicht abflauen zu lassen.
»Dafür, dass Sie nach eigener Aussage wenig lesen, sind Sie gar nicht mal so dumm, Frau Kommissarin.« Er grinste und sie überlegte einen Moment, ob seine ganze Schwerhörigkeitsgeschichte nicht vielleicht so etwas wie ein von ihm inszeniertes Theaterstück war, um still und Schnäpse trinkend hinter der Fassade der Unwissenheit all das zu hören, was man nicht mitbekommen sollte. Er wirkte ein wenig verschlagen, nein, stickum war das richtige Wort. Ein plattdeutscher Ausdruck, der sich nicht wirklich passend ins Hochdeutsche übersetzen ließ, der aber genau das verschmitzte und sympathisch-hinterhältige Wesen Dontjeers beschrieb.
»Minnert versprach mir am Telefon einen sensationellen Fund, deshalb kam ich mit den anderen nach Juist. Auf dem Fest gestern Abend hat er mir dann von seiner Vermutung erzählt, und obwohl ich dieser ganzen Hagebutten-Mädchen-Sache eher skeptisch gegenüberstehe, wurde ich neugierig.«
Wencke fühlte eine warme Welle den Rücken hinaufkriechen. Der Alkohol. Merkwürdig, sie kannte sich doch mit dem Zeug aus und wusste genau, wie viel sie vertrug. Als sie Dontjeer zunickte, schwamm ihr Blick ein wenig hinterher. »Aha«, brachte sie heraus, dann fingerte sie gierig nach den Zigaretten, die sie in ihrer Jackentasche aufbewahrte.
»Wir gingen also in seine Wohnung, aber da war kein Akkordeon. Jedenfalls nicht an der Stelle, wo er es aufbewahrt hatte. Minnert rief nach seinem Mitbewohner, und ich hatte ein bisschen den Eindruck, dass er nervös war. Nervös oder vielleicht auch wütend.«
Wencke kramte das Feuerzeug hervor und erntete einen strafenden Blick vom Wirt, der energisch auf ein Schild wies, das eine Zigarette zeigte, rot durchgestrichen natürlich. Pech! Jetzt eine rauchen…
»Naja, jedenfalls war sein Freund nicht da und das Instrument auch nicht, und da sagte Minnert, er wolle mal seine Nachbarin fragen, vielleicht wisse die, wo er suchen sollte. Also ging er kurz nach draußen, die Dame wohnt ja im selben Haus nur eine Tür weiter. Ich konnte nicht verstehen, was die beiden beredet haben, doch als er wieder zurückkam, war er noch hibbeliger. Und dann hat er mich ziemlich barsch abgewimmelt, ich solle wieder auf das Fest gehen und er würde mir Bescheid geben, wenn ich mir das Instrument anschauen könne. Richtig kurz angebunden war er, komisch, das war sonst gar nicht seine Art.«
Endlich trat Sanders, wie besprochen, zu ihnen an den Tisch. Wencke warf ihm einen freundlichen Blick zu und animierte ihn mit einer Geste, schleunigst das Schreibzeug hervorzukramen. Jedes Wort, das dieser komische Kauz in den letzten Minuten von sich gegeben hatte, gehörte ins Protokoll. Und sie selbst merkte von Minute zu Minute, dass dieser Hagebuttenschnaps, dieses unberechenbare Teufelszeug, ihr den Schreibarm lahm legen würde.
»Herr Dontjeer, sagen Sie, haben Sie Kai Minnert ebenfalls von Ihrem selbst gebrannten Hagebuttenbrand etwas abgegeben?«
»Ja, aber natürlich. Und er hat ihn genossen. Das Zeug hat immerhin fünfzig Umdrehungen, aber der Minnert konnte eine ganze Menge vertragen. Warum fragen Sie?«
»Nun, wir haben bei der Obduktion einen recht hohen Alkoholspiegel festgestellt, Sekt und eine unbekannte Schnapssorte, jedoch hat Minnert zahlreichen Zeugenaussagen zufolge das Fest relativ nüchtern verlassen.«
»Ja, das mag schon sein, dass wir beide eine ordentliche Portion gezwitschert haben. Apropos, noch ein Schlückchen, junge Deern?«
Wencke nickte, warum nickte sie eigentlich? Schon als er das Gläschen wieder bis knapp unter den Rand füllte, bereute sie ihre Zustimmung. Meine Güte, keinen einzigen Schluck sollte sie eigentlich mehr trinken. Zu spät.
»Sie sagen also, dass Kai Minnert es nach dem Gespräch mit dieser Nachbarin eilig hatte und sich sein Verhalten änderte, dass er mit einem Mal gehetzt wirkte«, fasste Wencke zusammen. Sie musste kurz innehalten, sich konzentrieren, konnte es sein, dass ihre Zunge bereits taumelte? »Kennen… ähm… kennen Sie den Namen dieser Frau?«
»Ja, er erwähnte ihn. Heike oder Meike, mit Nachnamen Hikken, das weiß ich genau!«
Wencke klopfte mit der flachen Hand auf den Tisch, genau auf das leere Blatt, welches vor Sanders lag.
»Schreiben Sie das unbedingt auf, Kollege. Diese Nachbarin ist wichtig, ich
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